STANDARD-Redakteurin Gudrun Harrer diskutiert mit einem irakischen Blogger, der mittlerweile im Exil in Europa lebt, über Mossul und die Zeit nach dem IS.

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Juni 2014, 300 Bewaffnete stürmen Mossul, die zweitgrößte Stadt des Iraks. Sie hatten moderne Autos, moderne Waffen, sie haben die Stadt übernommen und die Geschichte der Stadt geändert. "Niemand hat verstanden, was damals passiert ist", erzählt Omar Mohammed im vollen Bruno-Kreisky-Forum für internationalen Dialog am Donnerstagabend in Wien. "Egal, was ich sehe, ich vergleiche alles immer mit diesem Moment." Er blieb und begann unter dem Pseudonym "Mosul Eye" über die Herrschaft der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) aus Mossul zu berichten.

Mit der STANDARD-Redakteurin Gudrun Harrer diskutierte der Blogger, der mittlerweile im Exil in Europa lebt, über Mossul nach dem IS ("Mosul after ISIS"). Seit der Befreiung setzt er sich für den Wiederaufbau seiner Heimatstadt ein. Als Bürgeraktivist versucht er die positiven Dinge, die seitdem dort passieren, hervorzuheben.

Er berichtet von den Initiativen der Lokalbevölkerung, die es geschafft hat, den Markt in der Altstadt wiederzubeleben. Er erzählt, wie durch seine Hilfe die Bibliothek der Universität Mossul wiedererrichtet und mit Büchern gefüllt wurde. Die Uni war, so Mohammed, der erste Ort, wo nach der Befreiung Mossuls im Sommer 2017 die Menschen wieder zurück zur Arbeit kamen.

Erste Sängerin Mossuls

Und es entstehen ganz neue Trends: Die vorwiegend junge Bevölkerung schafft ein ganz neues, friedliches Vokabular. Zum ersten Mal gibt es eine weibliche Sängerin in Mossul, genauso wie eine erfolgreiche Schwimmerin. Diese neue Generation im Irak habe genug vom politischen System – egal ob es um den ständig die Seiten wechselnden schiitischen Kleriker Muqtada al-Sadr geht oder den designierten Premier Mohammed Tawfiq Allawi.

Auch Präsident Barham Salih habe das Vertrauen in der Bevölkerung verloren. Es sei ein Missverständnis, dass die tausenden Menschen, die seit Oktober auf die Straßen im Süden des Landes gehen, "Reformen" wollen: "Sie wollen etwas ganz anderes."

Vergnügungspark statt Altstadt

Die positiven Geschichten täuschen nicht über die vielen komplexen Probleme hinweg. Korruption ist eines von ihnen, sagt Mohammed. Ein Ex-Gouverneur von Mossul habe ein riesiges Areal der Altstadt einfach abreißen lassen, weil er dort in einen Vergnügungspark und neue Gebäude investiert hat.

Eines der größten Probleme sei das Fehlen eines funktionierenden Justizsystems. Vor allem, wie mit den sogenannten "IS-Familien" umgegangen werden soll, ist ungeklärt. Bisher hat der Staat sich kaum um die Verbrechen, die von IS-Anhängern verübt worden waren, gekümmert. Und deren Familien sind genauso betroffen und stigmatisiert, "nur weil eines ihrer Familienmitglieder sich dem IS angeschlossen hat".

Sondergericht für IS-Kämpfer

All das würde erst recht ein Wiedererstarken der Terrormiliz ermöglichen. Mohammed fordert daher ein stärkeres Engagement der internationalen Gemeinschaft, nicht nur, aber auch im Umgang mit den ehemaligen IS-Kämpfern. Gerade bei jenen, die aus dem Ausland nach Syrien oder den Irak gereist sind, sind die Fälle komplex. Der Blogger sieht daher eine gangbare Lösung in einem internationalen Sondergericht, das im Irak oder in Syrien an einem symbolträchtigen Ort stattfinden sollte. Er erwähnt die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg. Man müsse "den großen Köpfen des IS in öffentlichen Prozessen zeigen, wie wir mit den Verbrechern umgehen".

Dass das ein komplexes Unterfangen wäre, ist ihm klar. Aber wenn das nicht passiert, dann würde man nur dem IS-Narrativ des "one way ticket" in den Krieg folgen: dass man dem IS beitritt, seine Staatsbürgerschaft aufgibt und somit nicht mehr in staatlicher Verantwortung liegt. Bei der regen Frage-Antwort-Runde konstatierte er abschließend: "Für mich als Historiker ist es schwierig, optimistisch zu sein, aber ich bin es." (saw, 20.2.2020)