Was er in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung eigentlich verloren habe, sei er oft gefragt worden, erzählt Samuel Wunsch. Er sei "doch ganz normal und arbeite sehr professionell", bekam er zu hören. Der Mittdreißiger hat eine geistige Beeinträchtigung.

Und diese hielt ihn nicht davon ab, seine Tätigkeit in der Werkstatt aufzugeben und mit 29 Jahren nochmals drei Jahre die Schulbank zu drücken. Als Wunsch vom Institut für inklusive Bildung hörte, "wollte er sich das mal ansehen". Und hat sich für den ersten Jahrgang beworben.

Das Institut für inklusive Bildung startete 2013 als Pilotprojekt in Kiel: Menschen mit geistiger Behinderung werden in drei Jahren zu sogenannten Bildungsfachkräften qualifiziert, um Studierende an Hochschulen im Umgang mit Behinderten zu schulen. Das Programm ist eine Qualifizierung, kein anerkannter Abschluss wie eine Lehre oder eine Ausbildung. Langfristig strebt das Institut aber eine staatliche Anerkennung an.

Seit 2017 ist es eine wissenschaftliche Einrichtung, die an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel eingegliedert ist. Sechs Bildungsfachkräfte, darunter Samuel Wunsch, sind seither an der Uni angestellt. Finanziert werden die Stellen vom Wissenschaftsministerium in Schleswig-Holstein. Mittlerweile arbeiten an fünf deutschen Hochschulstandorten Bildungsfachkräfte, künftig soll es das Institut bundesweit geben. Seit einem Jahr arbeitet man daran, es auch nach Österreich zu bringen. Gemeinsam mit den Trägern Jugend am Werk in Wien und Atempo in Graz sollen noch dieses Jahr jeweils sechs Fachkräfte qualifiziert werden. Und schließlich an der Hochschule angestellt. Einige hätten bereits Interesse bekundet, darunter die Wirtschaftsuni und die Uni Graz.

Manuel Wunsch (rechts) gibt sein Expertenwissen an Studierende weiter: Wie geht man mit Menschen mit Behinderung um?
Foto: Institut für Inklusive Bildung Kiel

Arbeitsplätze schaffen

"Damit schaffen wir Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt", sagt Gesa Kobs, Geschäftsführerin des Instituts. Nur wenige Behinderte arbeiten – dabei ist in der UN-Behindertenkonvention verankert, dass Menschen mit Behinderung ein Recht haben, ihren Lebensunterhalt durch eine frei gewählte Arbeit zu verdienen. Ein Netzwerk, das sich für die Bildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderung einsetzt, ist Zero Project der Essl-Foundation. Diese Woche fand die Zero-Project-Konferenz in der Wiener Uno statt, wo auch das Institut für inklusive Bildung vorgestellt wurde.

Das Institut vermittelt Wunsch und seinen Kolleginnen und Kollegen aber nicht nur einen Arbeitsplatz. "Ich habe mittlerweile meine persönliche Berufung gefunden", sagt Wunsch. Er liebe es, semesterweise den Studierenden gemeinsam mit einer Kollegin in Seminaren, oder zu sechst in Vorlesungen oder Workshops die Lebenswelten von Menschen mit Behinderung zu vermitteln.

"So können wir Vorurteile abbauen, dafür sensibilisieren, wie Inklusion aus unserer Sicht aussehen sollte", sagt Wunsch. Zum Beispiel, dass es respektlos sei, fremde Menschen mit Behinderung einfach zu duzen. Oder im Gespräch mit Gehörlosen nur deren Gebärdendolmetscher anzusehen und nicht die Person, mit der man eigentlich spreche. Das sei ihm sogar selbst einmal in einem Seminar passiert, wo ein gehörloser Studierender anwesend war, erzählt Samuel Wunsch. In den drei Jahren habe er auch gelernt, wie es Menschen mit einer anderen Behinderung als seiner geht. "Dadurch habe ich mich unglaublich weiterentwickelt, einen persönlichen Perspektivwechsel erlebt", sagt er.

Berührungsängste abbauen

Einfach war das nicht immer: Besonders mit Lernschwierigkeiten wieder lernen zu lernen sei anstrengend gewesen. Auch der Umstieg von körperlicher zu kognitiver Arbeit, erzählt Wunsch. "Es gab Momente, wo jeder von uns an seine Grenzen gestoßen ist, ans Aufhören gedacht hat." Doch als die erste Prüfung gut lief, habe er gemerkt: "Ich kann mehr, als ich mir zutraue – das motiviert, weiterzumachen."

Um möglichst vielfältige Erfahrungen zu vermitteln, lehren die Bildungsfachkräfte im Frau-Mann-Team, oft auch im Fußgänger-Rollstuhlfahrerin-Gespann. Auch über eigene Diskriminierungserfahrungen sprechen sie. "Das kann die Theorie nicht. Lehrende können nicht erklären, wie das Leben mit Behinderung ist, wenn sie nicht selbst eine haben", sagt die Geschäftsführerin Kobs. Und in den Seminaren entstehe so eine Situation, in der die Studierenden auch eine politisch inkorrekte Frage stellen könnten und Berührungsängste abbauten. Die Inhalte seien greifbarer.

"In Kiel kommen die Lehramtsstudierenden nicht daran vorbei, die Bildungsfachkräfte mindestens einmal im Bachelor und Master zu erleben", sagt Kobs. Doch nicht nur die Lehrkräfte der Zukunft werden sensibilisiert, auch etwa Studierende der sozialen Arbeit oder angehende Polizisten und künftige Führungskräfte. "Wenn die bereits an der Uni Inklusionskompetenzen erlernen, hat das ein großes Veränderungspotenzial für die Gesellschaft", sagt Kobs. Und führt womöglich zu einer inklusiveren Arbeitswelt. (set, 25.02.2020)