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Wahlsieg: Am 1. März 1970 holte Bruno Kreisky – für ihn und seine Getreuen unerwartet – die relative Mehrheit für die SPÖ. Kreisky regierte bis 1983 und begründete Mythen, die bis heute wirken.

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Um die Wirkung zu verstehen, die Bundeskanzler Bruno Kreisky auf seine Zeitgenossen ausüben konnte, ist es sinnvoll, sich die Alternativen ins Gedächtnis zu rufen, die sich um 1970 angeboten haben. So vor allem Josef Klaus – ein biederer, erzkonservativer und im persönlichen Umgang unnahbarer Politiker, der in der ÖVP als Modernisierer angetreten war und damit höchst erfolgreich wurde.

Klaus war ein Landespolitiker aus Salzburg – der bisher einzige VP-Landeschef, der sich getraut hat, den bequemen Landeshauptmannsessel zu verlassen, um (zuerst als Finanzminister, dann als Parteiobmann und Bundeskanzler) in der Bundespolitik seinen Platz zu erstreiten.

Und Klaus stritt gut: 1963 gewann er intern gegen den katholisch-konservativen Unterrichtsminister Heinrich Drimmel die Position des Parteichefs, dann gewann er 1966 die absolute Mehrheit bei der Nationalratswahl. Seine restriktive Finanzpolitik bescherte Österreich in den 1960er-Jahren einen wirtschaftlichen Aufschwung – die gesellschaftlichen Umbrüche zum Ende der Nachkriegszeit aber gingen an Klaus vorüber.

Nicht ausgemacht

Christoph Kotanko versucht in seiner Analyse des Kreisky-Kults, erst Klaus gerecht zu werden, ehe er sich seinem eigentlichen Thema widmet. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Person Kreisky noch schärfere Konturen.

Nur so wird verständlich, unter wie großem Zugzwang die aus der großen Koalition ausgeschiedene SPÖ (Klaus hatte ihr Ministerämter, aber kein Koalitionsabkommen angeboten) gestanden ist. Dass sie mit Ex-Vizekanzler Bruno Pittermann wenig Chancen haben würde, war rasch klar – dass aber Kreisky die eigentliche Alternative zu Klaus sein würde, war längst nicht ausgemacht.

Kotanko zeichnet den SPÖ-Parteitag vom Jänner 1967 so gut nach, wie es eben möglich ist, nachdem die tief gespaltene Partei die Medienvertreter aus der Wiener Stadthalle ausgesperrt hatte: Die parteiinterne Alternative zum jüdischstämmigen Kreisky wäre das ehemalige NSDAP-Mitglied Hans Czettel gewesen – favorisiert von Anton Benyas mächtiger Gewerkschaftsfraktion.

Doch Kreisky setzte sich mit 347 von 497 Stimmen durch, einte die Partei und führte sie am 1. März 1970 zu seiner eigenen Überraschung zur relativen und eineinhalb Jahre später zur absoluten Mehrheit.

Pendelbewegungen der Wählergunst

Die ÖVP hielt das für einen kurzfristigen Ausschlag von Pendelbewegungen der Wählergunst. Klaus meinte: "Die Demokratie hat nicht nur ihre Spielregeln, die wir genau beachten müssen, sondern auch ihre Launen, die wir hinnehmen müssen." Das, urteilt Kotanko, war klug gesagt, aber unzureichend für die Aufarbeitung der Wahl. Klaus hatte nicht verstanden, dass er einem neuen Politikertypus unterlegen war.

Zu diesem Politikertypus gehörte der souveräne Umgang mit den Medienvertretern und der telegene Auftritt: Wenn Kreisky in der damals über fast 100 Prozent Marktanteil verfügenden Zeit im Bild seine Statements mit der zum Kult gewordenen Formel "Ich bin der Meinung" einleitete und vor laufender Kamera die Brille auf- und absetzte, dann hörte und schaute das politisch interessierte Österreich zu.

Kotanko zitiert hier Kreiskys engen Mitarbeiter (und späteren Außenminister) Peter Jankowitsch: "Gerd Bacher war für eine offene, auch kontroverse Informationspolitik. Damit hat er Kreisky ein Forum eröffnet, das es vorher in dieser Form nicht gab."

Linker Mainstream etabliert

Natürlich profitierte Kreisky vom linken gesellschaftlichen Mainstream, der sich im Gefolge der gesellschaftlichen Umbrüche von 1968 etablieren konnte – und Kreisky trug gemeinsam mit Justizminister Christian Broda kräftig dazu bei, dass sich dieser Mainstream auch in konkreten Rechtsreformen niederschlug: Das Familienrecht und das Strafrecht wurden modernisiert.

Die Straffreiheit von Abtreibungen war ein wesentlicher Fortschritt, den viele Frauen als Befreiung empfanden. Die Stärkung der Rechtsstellung der Frau in Familie und Ehe wäre unter einem Josef Klaus ebenso wenig umgesetzt worden wie die Schülerfreifahrt, das Gratisschulbuch oder die Erhöhungen von Kinder- und Familienbeihilfen.

Das erklärt, warum viele Menschen Kreiskys im Wahlkampf ausgesprochene Einladung, "ein Stück des Weges gemeinsam" zu gehen, gefolgt sind und insbesondere Frauen noch über Jahrzehnte der SPÖ treu geblieben sind. Auch das ist Teil des Kults rund um den Kultkanzler.

An diesem wurde schon zu seiner Regierungszeit sorgfältig gearbeitet – auch hier erscheinen die Alternativen im Nachhinein als noch weniger überzeugend, als sie es seinerzeit gewesen sein mochten. Etwa 1971: Da plakatierte die SPÖ ein Kreisky-Bild mit dem vom Kanzler selbst formulierten Slogan "Lasst Kreisky und sein Team arbeiten", während die ÖVP gleich ein fünfköpfiges Team auf die Plakate druckte und so ihre potenziellen Wähler verwirrte.

Zum Kultstatus Kreiskys gehört auch, dass er viele Fehler gemacht hat (Kotanko lässt nicht nur Kreisky-Fan Heinz Fischer, sondern auch Kreisky-Widerpart Hannes Androsch ausführlich zu Wort kommen). Kreisky aber hat seine Fehler und Niederlagen wie jene in der Volksabstimmung über Zwentendorf, deren Folge der fast zivilreligiöse Antiatomkurs Österreichs war, gleich wieder zu Besonderheiten seiner eigenen Politik stilisiert. So begründet man Mythen. (Conrad Seidl, 22.2.2020)