Kanadas Premier Trudeau (links) richtete Kurz in München aus, es komme weniger darauf an, dass Einwanderer gut ausgebildet sind, als darauf, dass sie integriert werden. Die norwegische Premierministerin Erna Solberg moderierte den Schlagabtausch.

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Eigentlich haben die beiden nicht viel gemein. Und doch eint die zwei Staatschefs diese eine entscheidende Sache, die wohl nötig war, um Ende der Zehnerjahre gewählt zu werden: Justin Trudeau und Sebastian Kurz haben eine unmissverständliche Haltung, wenn es um Flucht und Migration geht. Sie beziehen klar Stellung, wo viele wanken. Der kanadische Premier auf der Seite der Progressiven, der Vertreter einer offenen Gesellschaft. Der österreichische Kanzler auf der anderen, jener der Skeptiker und der Abschotter. Der eine gilt als Idealist, der andere nennt sich Realist. Doch was ist das Resultat? Abseits der Sonntagsreden – wie unterscheidet sich die Migrationspolitik der beiden Länder? Geht Kanada tatsächlich anders mit Ankömmlingen um als Österreich?

Schlagabtausch mit Kurz

Vergangenes Wochenende sitzen einander Trudeau und Kurz auf einem Podium der Münchner Sicherheitskonferenz gegenüber. Es kommt zum Schlagabtausch. Trudeau hält ein Plädoyer für die pluralistische Gesellschaft. Kurz entgegnet: Kanada habe extrem strenge Einwanderungsregeln. Diese ausgewählten Migranten seien natürlich gut integrierbar. Kein Kunststück. "In Österreich haben wir auch kein Problem damit, die Söhne und Töchter von Botschaftern zu integrieren", erklärt der junge Kanzler auf Englisch. Bei Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak sehe das anders aus. Die seien oft schlecht ausgebildet, hätten deshalb auch schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Integration? Deutlich schwieriger.

Trudeau lässt das so nicht stehen: Auch Kanada nehme Flüchtlinge auf – und sie würden die Gesellschaft bereichern. Und zwar unabhängig davon, ob sie Sprachkenntnisse mitbrächten oder spezielle Fähigkeiten besäßen. Die Frage sei nicht, wer komme, sondern wie man die neuen Mitbürger integriere, welche Chancen man ihnen gebe, argumentiert der liberale Premierminister.

Kurz stimmt zu, verweist aber auf die Zahlen. Und die sprechen natürlich für ihn. Österreich gehört zu den westlichen Ländern, die 2015 mit Abstand am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Mehr als 88.000 Asylanträge wurden in diesem Jahr gestellt – in einem Land mit nicht ganz neun Millionen Einwohnern.

Kurz war zu dieser Zeit Außenminister unter dem roten Kanzler Werner Faymann – und hat schon damals vor ungezügeltem Zuzug gewarnt, wenn auch etwas weniger scharf als heute. Er sprach von einem "Schlepperförderungsprogramm der EU". Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle appellierte er an die Entscheidungsträger, dass es so nicht weitergehen könne und Europa endlich "aufwachen" müsse.

Auch Trudeau macht seit langem klar, wofür er steht. Vor vier Jahren holte er spontan 25.000 syrische Flüchtlinge ins Land. Kanada hat rund viermal so viele Einwohner wie das kleine Österreich. "An all jene, die vor Verfolgung, Terror und Krieg fliehen: Kanadier werden euch willkommen heißen, unabhängig von eurem Glauben", twitterte Trudeau 2017.

Seither sind Tausende von Flüchtlingen und Migranten illegal von den USA über die kanadische Grenze gewandert oder geschmuggelt worden. Kanada bekam plötzlich auch einen Geschmack davon, was Länder wie Italien oder Griechenland ständig erleben.

Kanadier befürworten Migration

Doch obwohl der Chef der Liberalen Partei Kanadas wegen des Tweets von seinen Gegnern kritisiert wurde, konnten diese kein politisches Kapital daraus schlagen. Migration und die Rettung von Flüchtlingen werden in der Bevölkerung immer noch größtenteils positiv gesehen. Mehr als ein Fünftel der Menschen in Kanada ist im Ausland geboren. Trudeau erklärte in seinem Tweet auch: "Vielfalt ist unsere Stärke." Und so sehen das die meisten Kanadier ebenfalls. Multikulturalität wird nicht nur als Pfeiler der kanadischen Identität gesehen, sie ist sogar gesetzlich verankert.

Die Akzeptanz gegenüber Einwanderern hat auch mit ökonomischen Abwägungen zu tun. Denn: Kanada braucht Migranten, ohne sie würde der Arbeitsmarkt zusammenbrechen. Die Geburtenrate ist zu niedrig, die Bevölkerung überaltert. Es werden deshalb – wie von Kurz angesprochen – vor allem Arbeitskräfte aufgenommen, die das Land benötigt. Das Punktesystem, nach dem Migrationsgesuche beurteilt werden, wurde von der konservativen Vorgängerregierung eingeführt. Trudeau hat es beibehalten. Punkte gibt es für bestimmte Berufe, für eine gute Ausbildung, für niedriges Alter, für Sprachkenntnisse und für Arbeitserfahrung. Doch ohne ein Stellenangebot in Kanada ist die Einwanderung selbst für Fachkräfte nahezu unmöglich. Die Hälfte der maximal erreichbaren 1200 Punkte erhält ein Bewerber, wenn er wegen eines konkreten Jobangebots kommen will.

Ähnliches System in Österreich

Das System ist der österreichischen Rot-Weiß-Rot-Karte gar nicht so unähnlich. Auch hierzulande werden qualifizierte Arbeitskräfte aus Drittstaaten nach Punkten bewertet, wenn sie einwandern möchten. Man nennt das "kriteriengeleitete Migration". Punkte bekommen die Arbeitswilligen etwa für ein abgeschlossenes Studium, frühere Forschungstätigkeit, Berufserfahrung sowie Deutsch- oder Englischkenntnisse. Wenn man ausreichend Befähigung mitbringt, bekommt man mit der Rot-Weiß-Rot-Karte eine befristete Aufenthaltsbewilligung. Wer nicht hochqualifiziert ist, muss allerdings auch hier ein Jobangebot vorweisen können. Die Arbeitserlaubnis gilt dann nur für diesen einen Arbeitgeber.

Derzeit leben und arbeiten etwas weniger als 100.000 Menschen mit einer Rot-Weiß-Rot-Karte in Österreich. Der Andrang an Flüchtlingen war in den vergangenen Jahren freilich deutlich höher, auch wenn 2019 nur noch 12.511 Asylanträge gestellt wurden und die Zahlen seit 2015 drastisch gesunken sind.

In Kanada wurden voriges Jahr fast 314.000 Einwanderer aufgenommen. Und Trudeau will diese Zahl weiter steigern: Kommendes Jahr sollen es 350.000 sein, das entspricht fast einem Prozent der Bevölkerung. Dazu sollen 51.700 Flüchtlinge aufgenommen werden.

Seine Zuwanderer sucht sich Kanada bereits ganz gezielt: Auf einer Regierungswebseite werden für das sogenannte Express-Entry-Programm die Berufsprofile Migrationswilliger präsentiert. Arbeitgeber und Behörden können sich dort die geeigneten Kandidaten heraussuchen. Und die Bewerber gelangen so auf Stellen, für die Kanadier fehlen. Sie können nach wenigen Monaten einwandern. Das zeigt: Trudeau ist nicht nur Idealist, sondern auch Pragmatiker.

Seine Aussage, dass Kanada in die Integration von Einwanderern und Flüchtlingen investiere, ist aber richtig: Neuankömmlingen werden beispielsweise Betreuer zur Seite gestellt, die ihnen helfen, sich in Kanada zurechtzufinden und die Sprache schneller zu lernen.

Immer wieder werden Stimmen laut, denen zufolge eine noch höhere Zahl an Migranten nach Kanada gelassen werden sollte. Trudeaus Regierung aber will schrittweise vorgehen. Erst die Infrastruktur für eine gelungene Integration wie Wohnraum und Dienstleistungen schaffen, dann aufnehmen. Diese Vorsicht macht deutlich, dass Trudeau das Wohlwollen der Bevölkerung dann doch nicht allzu sehr strapazieren möchte.

Kurz sind die Hände gebunden

Kurz ist – wie er selbst sagt – natürlich in einer anderen Situation als Trudeau im von großen Ozeanen umgebenen Kanada, das nur an die USA grenzt. Für Einwanderer kann er Regeln aufstellen. Für den Umgang mit Flüchtlingen, die in Österreich Asyl beantragen, ist seine Regierung jedoch an europäische und inter nationale Verträge gebunden. Kurz setzt deshalb vor allem auf symbolische Maßnahmen und kleinere Schikanen, um zu zeigen, wofür er steht: Familien mit vielen Kindern wurden Sozialleistungen gestrichen – wodurch vor allem Migranten getroffen werden sollten. In Kindergärten und Schulen erließ man Kopftuchverbote. Der rechtlich ohnehin nicht bindende UN-Migrationspakt wurde von Österreich nicht mitgetragen.

Die vielleicht weitreichendste Duftnote hat Kurz diese Woche gesetzt, indem er sich gegen eine Fortsetzung der EU-Marinemission Sophia gestellt hat. Die Schiffe sollten die Schlepperkriminalität überwachen, es wurden damit aber auch immer wieder in Seenot geratene Menschen gerettet. "Ticket nach Europa" nennt Kurz das. Für solche Aussagen halten ihn seine Kritiker mehr für einen Zyniker denn einen Realisten. (Bernadette Calonego aus Vancouver, Katharina Mittelstaedt, 22.2.2020)