Daniel Hendler im Wettbewerbsbeitrag "El Prófugo", einem Psychothriller aus Argentinien.

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An der Wall of Fame im Berlinale-Palast ist er in lässiger Dandypose im Profil zu sehen, mit Melone und Zigarillo im Mundwinkel. Nicht ganz so entspannt absolvierte Jeremy Irons hingegen seine erste Pressekonferenz als Jury-Präsident, waren doch im Vorfeld des Festivals frauenfeindliche und homophobe Aussagen des britischen Stars ausgegraben worden. Zum Dienstantritt nutzte er nun die Gelegenheit, um sich unmissverständlich hinter den Kampf für Gleichberechtigung zu stellen und sich für das Recht auf Abtreibung und die Homoehe auszusprechen. Eine Pflichtübung, keine Frage, aber authentisch absolviert.

Schauspieler sind im Zeitalter der Erregungskurven generell nicht zu beneiden. Einen Film zu machen, nur um eine zuletzt etwas ins Stocken geratene Karriere anzukurbeln, ist etwa zu wenig. Johnny Depp sagte bei der Pressekonferenz in Berlin, dass er mit dem Umweltdrama Minamata den Menschen auch die Augen öffnen wolle.

Eigentlich ist sein Part des Life Magazine-Fotografen W. Eugene Smith das, was man handelsüblich eine Altersrolle nennt: Bei Depp, dessen Figuren immer mit einem Fuß im Fantasieland stehen, sieht das ziemlich überwuzelt aus – der graue Bart hängt flechtenartig an den Backen, und krauses Haar quillt unter der Pullmannkappe hervor. Wenn er seinen Redakteur (Bill Nighy) beflegelt oder einer japanischen Aktivistin (Minami) schöne Augen macht, wirkt das immer mehr so, als würde man einer leicht comichaften Kunstfigur zusehen.

Psychothriller

Minamata will jedoch als engagiertes Aufdeckerdrama ganz woanders hin. Es geht um die Praktiken des Chemiekonzerns Chisso, der in den 70ern giftige Quecksilberverbindungen ins Meer gepumpt hat. Krankheiten, missgestaltete Babys waren die Folge. Die Regie von Andrew Levitas verzettelt sich jedoch in einem überkonstruierten Plot, die Musik und eine ermüdend expressive Kamera unterstreichen die fehlende Spannung nur. Dazwischen Depp aka Smith, der unter harten Bedingungen immer öfter zur Flasche greift.

Minamata hat Programmchef Carlo Chatrian in den Specials, nicht im Wettbewerb platziert. Mit dem argentinischen Beitrag El prófugo (The Intruder) von Natalia Meta gab es dort bereits einen geschickt Erwartungen unterlaufenden Psychothriller zu sehen, der an New-Hollywood-Filme wie Brian De Palmas Blow Out erinnert, auch an den grellen Giallo-Horror aus Italien. Der Prolog ist noch als Beziehungskomödie mit unheimlichen Untertönen gehalten. Inés (Érica Rivas) fährt mit ihrem Freund auf Urlaub ans Meer. Die Stimmung beginnt schon im Flugzeug zu kippen, weil sich Leopoldo (Daniel Hendler) als Nervensäge erster Güte entpuppt, der sogar auf ihre Träume eifersüchtig ist. Es dauert dann nicht lange, und er treibt leblos im Pool.

Synchronsprecherin

El prófugo entwickelt sich daraufhin zur farbigen Studie der um ihr seelisches Gleichgewicht gebrachten Inés. Sie laboriert unter Angstträumen, die immer mehr in die Realität hinüberragen. Der Zuschauer verliert mit ihr gemeinsam die Orientierung. Besonders raffiniert ist Metas Umgang mit dem Ton. Inés arbeitet nämlich als Synchronsprecherin bzw. -schreierin von Horrorfilmen sowie als Sängerin in einem Frauenchor.

Auf beiden Feldern erscheint sie nicht mehr im Vollbesitz ihrer Kräfte, sie hört Stimmen, merkwürdige Obertöne irrlichtern herum — hat eine fremde Macht von ihr Besitz ergriffen? Der Film spiegelt die Ungewissheit in seiner Form: Wie beim erwähnten Giallo lauern Schock und Schauwerte nah an der Oberfläche, ohne allzu große Ironie. Die Einsicht, dass wir alle viele, also selbst irrsinnig divers sind, wurde schon länger nicht mehr so originell verfilmt. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, 22.2.2020)