"Mussolini wirkte oft lächerlich, aber er war einer der Ersten, die verstanden, was der Körper eines Führers bewirken kann", sagt Autor Antonio Scurati.

Foto: Imago

Antonio Scurati ist Medientheoretiker und Schriftsteller.

Ein Roman über den Duce des italienischen Faschismus, mit stinkenden Füßen und anderen unappetitlichen Details: Mit M. Der Sohn des Jahrhunderts hat der Turiner Professor Antonio Scurati in Italien für Furore gesorgt. Er lässt die Grenzen zwischen Literatur und Geschichtsschreibung verschwimmen; zum Zweck größerer Einsicht, meinen die einen, mit durchaus problematischem Effekt, meinen andere. Diese Woche erscheint die deutsche Übersetzung.

STANDARD: Wie weit reicht denn Ihre Idee zurück, einen Roman über Mussolini und den Faschismus in Italien zu schreiben?

Scurati: Die Idee kommt aus einer Zeit, als ich über einen antifaschistischen Helden schrieb: Die beste Zeit unseres Lebens. Es handelte von Leone Ginzburg, einem brillanten Intellektuellen. Er war Gründer des Verlags Einaudi und Ehemann von Natalia Ginzburg. Während der Recherchen stieß ich auch auf Dokumente, in denen es um Mussolini ging, mir wurde klar: Die Geschichte dieses Mannes hat noch nie jemand erzählt. Nämlich in literarischer Form. So begann ich damals über Ursprünge des Faschismus nachzuforschen, während ich ein Buch über einen Antifaschisten schrieb.

STANDARD: Sicher gibt es aber viele Standardwerke über Mussolini.

Scurati: Natürlich. Das wichtigste ist von Renzo De Felice, er hat das Nachdenken über den Faschismus verändert. Er war der Erste, der darüber schrieb, wie stark die Zustimmung zu Mussolini war. Das erhellendste Buch ist von einem Zeitzeugen: Nascita e avvento del fascismo von Angelo Tasca aus dem Jahr 1950. Er reflektierte seine eigenen Erfahrungen.

STANDARD: Sie ergänzen die Geschichtsschreibung mit einem Roman. Wie würden Sie die Methode charakterisieren?

Scurati: Ich entwickelte diese Methode schon im Buch über Ginzburg. Es ist ein Roman, aber kein fiktionaler. Ich spreche von einem dokumentarischen Roman. Als ich von Ginzburg erzählte, schrieb ich auch die Geschichte meines Großvaters hinein, also die Geschichte einfacher Antifaschisten, kleiner Leute. Als ich zu Mussolini kam, wollte ich eine neue Form finden, die den Faschismus von innen zeigt. Mussolini und seine Bewegung mit ihrer menschlichen Seite, mit vielen Details. Es sollte also alles da sein, was man in einem Roman tut, nur ohne jegliche Erfindung. Alles muss abgesichert sein.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben, das diese Methode nachvollziehbar macht? Historiker müssen ja auch erzählen, auch bei ihnen sind Details wichtig.

Scurati: Ich erzähle in Szenen. Manche sind für einen Historiker nicht relevant. Etwa dieser Moment am Ende des Marsches auf Rom. Das ist ja der Moment seiner Machtergreifung. Am Abend geht er in sein Hotelzimmer, seine wichtigsten Leute hat er um sich. Er zieht seine Stiefel aus, legt die Füße auf den Tisch, raucht und nimmt die Gratulationen entgegen. Seine Füße stinken. Er hat schließlich lange genug in diesen Stiefeln gesteckt. Seine Leute sind wie Schulbuben, er stinkt, aber sie müssen darüber hinwegsehen. Das ist eine Szene, in der man sieht, wie eine Diktatur beginnt.

STANDARD: Sie erzählen aber auch in einem großen Panorama.

Scurati: Wir erleben den Faschismus durch die Hauptfiguren, neben Mussolini ist da auch der Futurist Marinetti oder der Organisator Italo Balbo. Und auch die Hauptereignisse sind alle da, es fehlt nichts. Ich breche nur mit einem Paradigma, dem "marginalismo". Es ist das Bemühen, Geschichte von der Seite her zu erzählen, von unten, aus der Perspektive von kleinen Figuren. Ich gehe in die Mitte, erzähle die Hauptereignisse auf neue Weise. Auch das Paradigma der Opfer breche ich, es war zuletzt ein Paradigma, Geschichte aus der Perspektive der Opfer zu erzählen. Das war notwendig ...

STANDARD: Und es war auch schon eine Reaktion auf ältere, traditionellere Weisen des historischen Erzählens: Auf die Haupt- und Staatsaktionen folgte eine Alltagsgeschichte, dann eine Geschichte der Leidenden.

Scurati: Das war ja auch wichtig. Unsere Zivilgesellschaft, unsere Demokratie beruhen auf dieser Perspektive. Heute müssen wir den Faschismus aber neu in den Blick nehmen. Im Bild hat etwas gefehlt, und nun müssen wir diesen Teil ausmalen. Wir müssen die dunkle Seite des Faschismus nachzeichnen.

STANDARD: Faszination war ein Hauptprodukt des Faschismus.

Scurati: Absolut. In den Narrativen des Faschismus aus der Sicht von Antifaschisten ging die Verführung verloren, denn das konnten sie nicht zulassen, das konnten sie nicht einmal sehen, dass der Faschismus attraktiv war. Jetzt kommt diese Faszination zurück, und um sie zu erkennen, müssen wir sie zuerst zeigen. Ich beschreibe einige der Rituale. Das erschreckendste, aber auch unwiderstehlichste ist der Totenappell.

Da stand die ganze Bewegung da und rief die Namen ihrer Märtyrer auf, und auf jeden Namen eines Toten antworteten alle laut und einstimmig: "presente". Hier. Also nicht tot, sondern noch hier. Das ist schauerlich, aber man kann sich auch vorstellen, wie aufregend das gewesen sein muss, so gegen den Tod aufzutreten. Wir müssen zeigen, dass dieses Ritual zu weiteren Toten führt. Es bringt nichts, das irgendwie unter Verschluss zu halten und Mussolini für verrückt zu erklären.

STANDARD: Heute soll Politik als Show alle in Passivität halten?

Scurati: Bei Mussolini gab es noch so etwas wie Mobilmachung. Heute aber funktioniert Politik durch das Versprechen, man könnte Zuschauer bleiben. Die Archetypen sind die gleichen: Angst vor Invasion, vor Feinden. Aber die Botschaft ist: Macht euch keine Sorgen, wir erledigen das für euch. Mussolini schürte Angst und verwandelte dieses passive Gefühl in ein aktives, in Hass. Heutige Populisten schüren auch Hass, aber sie nähren die Illusion, wir könnten die Konsequenzen des Hasses vermeiden. Wir müssen niemanden töten, das erledigen Berufssoldaten oder Polizei. Bürger sollen auf der Couch bleiben, vielleicht in sozialen Netzwerken aktiv sein, aber die Macht sollen sie delegieren.

STANDARD: Ist Matteo Salvini für Sie ein Faschist?

Scurati: Er spielt auf Mussolini an, aber ich würde das nicht zu ernst nehmen. Das Problem ist größer. Salvini kommt nicht aus einer faschistischen Kultur, seine Anhänger sind keine Faschisten, so wie auch Bolsonaro und Trump keine Faschisten sind. Na ja, Bolsonaro vielleicht ein bisschen. Sie müssen keine Faschisten sein, um Populisten zu sein. Salvini holt sich Zustimmung, indem er seine Anhänger den intellektuellen Antifaschismus ablehnen lässt. Es ist also kein Faschismus, sondern ein Antiantifaschismus. Trump ist Mussolini sicher ganz egal. Aber er wirft seinen Körper mitten in die politische Szene, er spricht nicht die intellektuelle Seite an. Mussolini wirkte oft lächerlich, aber er war einer der Ersten, die verstanden, was der Körper eines Führers bewirken kann. Der muss gar nicht attraktiv sein.

STANDARD: Die Chancen für eine Politik der Vernunft?

Scurati: Derzeit sieht es aus, als wären wir die Verlierer. Das wird sich so schnell nicht ändern. Salvini wird bald die Macht übernehmen. Ein historischer Trend spricht für ihn. Wir müssen jetzt schauen, dass wir überleben und dass wir die Geschichte wieder auf unsere Seite bekommen. Ein Tweet von Salvini gegen einen Roman mit 800 Seiten, das wirkt erst einmal wie ein ungleiches Match, auch wenn der Roman populär ist und sich gut verkauft. Um Geschichte muss man kämpfen. Es gibt keinen Grund aufzugeben. (Bert Rebhandl, 24.2.2020)