Anna Burns ist die erste nordirische Autorin, die den Man-Booker-Preis gewann.

Eleni Stefanou

Als Anna Burns 2018 für ihren Roman Milkman mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichnet wurde, tobte das verbissene politische Ringen um eine harte oder grüne EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland. Burns konnte, als sie mit dem Roman über Belfast in den 1970ern zur Zeit des Nordirlandkonflikts begann, nicht absehen, dass er ein Buch der Stunde würde. Die Angst, dass der EU-Austritt Großbritanniens alte Wunden aufbrechen lassen könnte, ist heute aber noch immer nicht ausgestanden.

Wie schlimm es damals war, erzählt Burns im soeben auf Deutsch erschienenen Buch meisterhaft. Hauptfigur ist eine namenlose Ich-Erzählerin, deren Jugend von Misstrauen, Gerüchten und Spaltung geprägt ist. Straßenzüge und Familien sind zerrissen, und es ist normal, dass die Erstgeborenen der katholischen Seite als "Verweigerer" im Kampf gegen den "terroristischen Staat" sterben.

Spione und Paranoia

Der Konflikt kriecht in jede Ritze. Manche TV-Sendung darf man nicht schauen und gewissen Tee nicht trinken, will man nicht als Verräter gelten. Paranoia gibt es wie Spione überall. Seitenlang lässt Burns die Männer der Straße wegen eines Kompressors aus einem Oldtimer, der von "der anderen Seite" vor Jahrzehnten gebaut worden war, darüber streiten, ob ihn zu besitzen einen "Mangel an Unterstützung für den achthundertjährigen Kampf", ja Verrat bedeute. Leben und Tod können davon abhängen.

Nicht nur politisch hängt diese Welt aber am seidenen Faden. Erzählt wird in Milchmann zugleich das Heranwachsen der Heldin. Allein schon, dass sie viel liest und dabei spazieren geht, macht sie für das allgemeine Urteil "versponnen". Eine Frau ihres Alters ohne Mann und Kinder ist ein erst recht irritierender Fremdkörper. Vollends zu viel wird letztlich, dass sie mit dem viel älteren und als mutmaßlicher Verweigerer mächtigen Milchmann zusammen sein soll.

Bloß hat sie weder etwas mit ihm, noch kann sie ihn leiden. Sie fühlt sich im Gegenteil unwohl, wenn er sie aus dem Lieferwagen heraus stalkt oder ihr im Park auflauert. Doch sind das alles keine Tatbestände: Er hat sie nicht angefasst, es ist also nichts passiert. Trotzdem traut sie sich bald nicht mehr außer Haus, hat Angstzustände. Wie alle glauben ihr auch Mutter und Schwestern nicht. Wenn sie sich mit ihm ihr Leben vertun will, sei sie selbst schuld.

Erziehung zum Eigensinn

Burns wurde 1962 selbst in Belfast geboren, mehr als ein paar Eigenschaften will sie mit ihrer Figur dennoch nicht gemein haben. Gewalt, die Unterdrückung von Frauen und wie Familien davon zersetzt werden, sind in ihren vier bisherigen Romanen aber wiederkehrende Themen. Ihr klarer Ton seziert diese Welt, in der man die sich formierenden Feministinnen spitz für gefährliche "Aufrührerinnen" hält, analytisch scharf. Zugleich ist er emotional, warm.

Burns Erzählen bringt laufend Situationen zum Vibrieren. Etwa, wenn sie über zehn Seiten den Versuch einer Sprachlehrerin beschreibt, den Schülern die Farben des leuchtenden Abendhimmels zu zeigen, von dem jene behaupten, er sei einfach "blau" – weil ein Himmel nun mal blau ist. In ihrer Welt schaute man ihn noch nie an.

Milchmann ist als Emanzipationsstory und politisches Mahnmal gleichermaßen gelungen. (Michael Wurmitzer, 25.2.2020)