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In Anadyr, der Hauptstadt Tschukotkas, sind alle Häuser bunt. Die Farbe soll gegen die Tristesse der Polarnächte helfen.

Foto: Alexandre Sladkevich

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Früher fand in der Region einmal jährlich ein großes Fest zu Ehren der Wale statt.

Foto: Picturedesk / Yuri Smityuk

Heute gibt es stattdessen die Beringia Games, eine Olympiade für regionale Sportarten.

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Die Tschuktschen-Halbinsel im Fernen Osten ist jedem Russen bekannt – wegen der Witze, die über das indigene Volk gemacht werden. Sie sind den Burgenländer-Witzen ähnlich, handeln von der vermeintlichen Dummheit einer Menschengruppe, sind dabei aber selbst unglaublich blöd. Sie verraten zudem mehr über die Unwissenheit der Witzeerzähler als über die rund 15.000 Menschen, die sich zu dieser Volksgruppe zählen.

Der Autonome Kreis der Tschuktschen, auch Tschukotka genannt, ist auch für die meisten Russen Terra incognita. Das Gebiet liegt im äußersten Nordosten des Landes, wird aber mit dem Flugzeug aus Moskau und Chabarowsk regelmäßig angeflogen. Nur die knapp 86 Kilometer breite Beringstraße trennt es von Alaska. Russen wie Ausländer müssen eine Sondergenehmigung beantragen, um in die Region einreisen zu dürfen.

Geländewagen mit sechs Rädern

Das Flugzeug landet in der Siedlung Ugolnyje Kopi auf einem Flughafen, der dem Permafrost standhalten muss. Es bleiben nur etwa zehn Kilometer bis Anadyr, die Hauptstadt Tschukotkas. Die Strecke verläuft großteils über den Anadyrskij Liman, eine zugefrorene Flussmündung am Golf von Anadyr. Deshalb verkehren hier hauptsächlich die exotischen Trekols, fast drei Tonnen schwere Geländewagen auf sechs riesigen Rädern.

Der Trekol nimmt wie ein Sammeltaxi acht Passagiere mit und fährt erst bei voller Auslastung los. Der Fahrer scherzt: "Falls wir das Eis durchbrechen – können eh alle schwimmen?" Er schaut in schreckerfüllte Gesichter, lacht laut auf und fährt los.

Farbige Kleckse

Bald erblickt man die ersten farbigen Kleckse der meist fünfstöckigen Häuser und die vergoldeten Kreuze auf Zwiebeltürmen vor der endlosen schneeweißen Steppe. Anadyr sieht wie eine Oase im Schnee aus. Die auf Pfählen errichteten Siedlungshäuser sind in so knalligen Farben gehalten, um als Gegenmittel gegen die Depression zu wirken, die durch den Lichtmangel in den langen Polarnächten entsteht.

Anadyr, die östlichste Stadt Russlands, liegt an der Küste des Pazifischen Ozeans. Sie ist recht klein, wirkt irgendwie gemütlich. Viele Fassaden werden noch von sowjetischen Mosaiken geschmückt, andere von Motiven der Indigenen.

Auch riesige Banner mit den wichtigsten Protagonisten und Gütern der Region sind zu sehen: Schamanen, Eisbären, Walrosse, Wale und Kaviar. Die da und dort asphaltierten Straßen werden gelegentlich auch von arktischen Zieseln zum schnelleren Vorankommen genützt.

Wahlheimat mit Walen

In dieser unwirtlichen Gegend lebt der 54-jährige Konstantin Lemeschew, ein landesweit bekannter Chronist Tschukotkas. Seit den 1980er-Jahren bereist er seine Wahlheimat und fotografiert einfach alles: Seine Bilder zeigen die Wal- und Walrossjagd, das traditionelle Fischen und Sammeln von Meeresfrüchten, Aufmärsche an nationalen Feiertagen, den Tundra- und Provinzalltag und regionale Delikatessen: Kopalchen etwa, das sind Walrossstücke, die samt Haut und Fett monatelang in der Erde vergraben werden, Seesterne und Seescheiden. Ein Bild zeigt eine Eisbärin mit ihrem Jungen.

"Ich stemmte mir eine Höhle ins Eis, weniger Meter von der Eisbärenhöhle entfernt und lebte dort fast eine Woche. Zum Schutz hatte ich nur einen glatten Stock dabei. Als die Bärin einmal versucht hat, in meine Höhle zu gelangen, streckte ich ihr den Stock entgegen. Sie hielt ihn für den Stoßzahn eines Narwals und ließ von mir ab", erzählt Lemeschew.

Walknochen

Es scheint, dass es kaum Ecken auf Tschukotka gibt, die er nicht besucht hat, doch er widerspricht: "Tschukotka ist eine grenzenlose Welt, man kann sie lebenslang bereisen und nie genug davon sehen. Sie präsentiert sich zu jeder Jahreszeit völlig anders." Auf einem seiner Bilder ist das Kap Deschnjow zu sehen, der östlichste Punkt des asiatischen Festlands.

Das verlassene Naukan, ein Dorf der Inuit, ist darauf zu erkennen. Heute ist das Dorf mit seinen aus der Erde ragenden, riesigen Walknochen, nur im Sommer und nur über das Wasser zu erreichen. 1958 erklärte die sowjetische Regierung den Ort als rückständig und siedelte die Einwohner um. Seither sind deren Kultur und die Sprache Yupik vom Aussterben bedroht.

Obertongesang

In der Stadtmitte gegenüber der großen Holzkathedrale steht ein futuristischer Museumsbau, der auf drei Stockwerken mit einer üppigen Sammlung überrascht. Hier findet man auch die 66-jährige Irina Suworowa, die Leiterin des Inuit-Ensembles Atasikun. Sie ist eine der wenigen Naukan-Inuit, die in Anadyr leben.

Sie sitzt in einem Raum gemeinsam mit Anna Gyrgolgyrgyna, die wiederum das tschuktschische Ensemble Enmen leitet, das für seinen Obertongesang bekannt ist. Suworowa zeigt auf die alten Aufnahmen der Naukan-Siedlung und erzählt: "Wir wurden auch deshalb umgesiedelt, um in der Schule Russisch zu lernen. Ich bin vermutlich die Letzte in Anadyr, die noch Yupik beherrscht."

Am Leben erhalten

Suworowa trägt den Titel "Bewahrer der Nationaltraditionen". Sie hält ein Tanz- und Liedrepertoire am Leben, das die Inuit auf russischer sowie auf alaskischer Seite pflegten. Die Naukan leben seit mindestens 2.000 Jahren auf beiden Seiten der Beringstraße, von der Volksgruppe der Tschuktschen nimmt man dagegen an, dass sich ihr traditionelles Siedlungsgebiet von der Beringstraße westlich in die sibirische Tundra erstreckt.

Ihre Art zu leben ist ähnlich, aber nicht exakt dieselbe. So konzentrierten sich die Naukan früher eher auf die Jagd von Meeressäugern, die Tschuktschen gingen eher an Land auf die Jagd.

Russlands 185 Ethnien

In Tawajwaam, einer Siedlung, die an Anadyr grenzt, leben heute viele unterschiedliche Ethnien des russischen Fernen Ostens: neben den Tschuktschen auch Ewenen und Korjaken, Letztere kommen ursprünglich von der Halbinsel Kamtschatka.

Einer der Bewohner ist Iskander Gajfullin, ein Tschukot – so werden in der Region hier geborenen Europäer bezeichnet. Iskanders 64-jährige Frau Walentina ist wiederum halb Tschuktschin, halb Kerekin. Insgesamt zählt Russland 185 verschiedene Ethnien, die Kereken gehören zu den akut vom Aussterben bedrohten: 2010 wurden offiziell nur noch vier Personen dieser Volksgruppe zugerechnet.

Durch die Tundra

Das Ehepaar freut sich sichtlich über den Besuch, denn auch Iskander erforscht unermüdlich die Halbinsel und erzählt gern davon. Er zeigt alte sowjetische Karten her, auf denen er akribisch seine zurückgelegten Strecken einträgt.

Obwohl er bereits 71 Jahre alt ist, unternimmt er oft tagelange Wanderungen durch die Tundra: "Unsere Verwandten leben immer noch dort, deshalb gehe ich hin und bringe ihnen das Nötigste." Andrej Omryn Klimko, ein Verwandter von Walentina, ist gerade aus dem Dorf Kantschalan angereist und bleibt ein paar Tage zu Besuch.

Aufessen

Den Gästen werden Rentierfleisch, Stint aus dem arktischen Meer und eine Suppe aus wilder Gans und deren Blut kredenzt. Nur die völlig leergesaugten Knochen der Gans werden weggeschmissen, die Menschen in der Tundra sind daran gewöhnt, aufzuessen.

Der Gänsekopf gebührt dem Ehrengast Andrej, er ist ebenfalls Tschuktsche. Während des Essens erzählt er Anekdoten über sein Volk und meint: "Man hält uns für dumm, aber das sind wir nicht. Nur kluge Menschen sind in der Lage, über sich selbst zu lachen, auch wenn ihr Schicksal traurig ist."

Andrej kennt Roman Abramowitsch, den früheren Gouverneur der Region Tschukotka und Besitzer des Fußballclubs FC Chelsea. Abramowitsch ist in der Gegend beliebt, obwohl man ihm vorwirft, sich in seinem Amt bereichert zu haben. Immerhin habe er auch für bessere Lebensbedingungen gesorgt.

Beim Joggen verschollen

Iskander erzählt beim Essen lieber von seinen Abenteuern in der Tundra, meint aber: "Wer bin ich schon gegen Njurgun Jefremow!" Den Jakuten kennt hier jeder. Der in Jakutsk in der Teilrepublik Sacha lebende Jefremow versucht seit Jahren, zu Fuß oder mit dem Fahrrad an das Kap Deschnjow zu gelangen.

Sein Vater, ein Extremläufer, wollte einmal hinjoggen, erreichte das Kap aber nie. Er gilt seither als verschollen. Njurgun will dessen Vorhaben nun zu einem Ende bringen.

"Aber jedes Jahr geht etwas schief. Einmal gab es Waldbrände, da rannten vor dem Feuer flüchtende Braunbären auf mich zu. Also lief ich ihnen laut schreiend und mit dem Rucksack fuchtelnd entgegen. Das ist die beste Verteidigung gegen Braunbären", erzählt er. Er hat bereits tausende Kilometer in der Tundra zurückgelegt, das Kap bleibt aber vorerst unerreicht.

Nach Tschukotka trampen

Njurgun erinnert sich an eine Begenung mit dem Engländer Edward, der per Anhalter und als Tramper auf einem Frachtschiff Tschukotka erreichte. Aber das kann der in Oxford geborene und nun in Moskau lebende Edward Vallance auch selbst erzählen, er ist ebenfalls gerade zu Gast: "Ich kann wirklich jedem empfehlen, nach Tschukotka zu reisen. Mit meinem gebrochenen Russisch habe ich es damals bis nach Bilibino ganz im Nordosten Sibiriens geschafft. Für diesen Ort benötigt man keine Sondergenehmigung. Diese Reise war eine umwerfende Erfahrung."

"Umwerfend" – so bezeichnen auch die in Anadyr lebenden Russen Oleg und Anastassija Kaljuschnyje die Region Tschukotka. Beide sind Mitte 30. Sie bereisen das Land mit dem Geländewagen, unternehmen gern mehrtägige Skiausflüge. Gastfreundlich, wie so viele hier sind, nehmen sie einen gleich mit zu einem Ort, der vor allem Ausländer interessiert.

Unterirdische Raktenbasis

In Gudym, auch als Anadyr-1 bekannt, gibt es eine "unterirdische Stadt" zu erkunden. Es handelt sich um eine verlassene militärische Siedlung der Raketentruppen der Sowjetunion. Hier wurde eine unterirdische Raketenbasis errichtet, in der strategische Kernwaffen versteckt waren. Die heute frei zugängliche Anlage ist so groß, dass sie sogar eine eigene Schmalspurbahn bekam.

Tschukotka begrüßt nur selten ausländische Gäste, einen Werbeslogan hat man sich trotzdem schon einmal überlegt: "Hier wird der Tag geboren", steht auf einer der Hausfassaden in Anspielung darauf, dass die Sonne im Osten aufgeht. Auch im übertragenen Sinn, wenn man erst einmal die Gastfreundschaft im Fernen Osten erleben durfte. (Alexandre Sladkevich, RONDO, 4.3.2020)