Kennt den Achtstundentag nur noch vom Hörensagen: Ricky (Kris Hitchen) liefert Pakete als prekärer Subunternehmer aus.

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"Was ist eigentlich aus dem Achtstundentag geworden?" Für Abbie, einer Sozialarbeiterin und Pflegerin in Newcastle im nordöstlichen Teil von England, klingt diese Frage einer Klientin fast schon wie Hohn. Abbie arbeitet von morgens halb sieben bis abends um neun. Sie benützt öffentliche Verkehrsmittel, um von einem Auftrag zum nächsten zu kommen, und Zeit für einen Plausch ist dabei eigentlich nicht vorgesehen. Also auch keine Zeit für eine Überlegung der Frage, was denn aus der einstigen Errungenschaft der internationalen Arbeiterbewegung geworden ist: dass ein Arbeitstag nach acht Stunden eigentlich zu Ende sein sollte.

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Man kann im Grunde das gesamte filmische Werk von Ken Loach als Antwort darauf sehen. Auch in Sorry We Missed You erzählt er wieder von der neuen Arbeitswelt, mit der die einfachen Leute in England ziemlich zu kämpfen haben. Loach hat das alles von Beginn an beobachtet und in seinen Filmen reflektiert: die Deregulierungen unter Margaret Thatcher, die Verwandlung der öffentlichen Institutionen in "Service"-Agenturen, die Zerschlagung der einst mächtigen Gewerkschaften und der "work forces", die noch Forderungen stellen konnten.

Abbie und ihr Mann Ricky können nirgends Forderungen stellen. Sie müssen froh sein, dass sie die Möglichkeit haben, mit langen Arbeitstagen ihre Familie so halbwegs über Wasser zu halten. Ricky ist Paketfahrer, und zwar einer, der auf eigene Rechnung fährt. "Franchise" ist der einschlägige Begriff dafür. Früher war ein Zusteller bei der Post angestellt, heute muss er einen eigenen Wagen mitbringen, wenn er für eine Firma fahren will, die ihn als Unternehmer sieht. Das klingt nach Eigeninitiative und Investitionschancen, ist aber nichts anderes als eine neuere Form der Auslagerung von Verantwortung.

Hochkonzentrierte Minidramen

Abbie und Rickie Turner haben zwei Kinder, die Tochter geht zur Schule, der Junge ist schon fast groß und betätigt sich als Sprayer, hat also eine kreative Ader. Die Turners sind eine britische Musterfamilie, nur sind sie halt ziemlich alleingelassen in ihrem Bemühen, das Leben zu bewältigen. Ken Loach und sein bewährter Drehbuchautor Paul Laverty sind Experten in der Schilderung von Alltagsmomenten. Der Titel ihres Films bezieht sich auf diese Standardsituation, die heutzutage fast jeder kennt: die Verständigung, dass eine Sendung zugestellt wurde, als man selbst gerade nicht da war. Allein schon die Dialoge, die Ricky führen muss, mit Adressaten oder deren Nachbarn, sind hochkonzentrierte Minidramen und enthalten eine Menge prägnanter Details.

Das Leben und Arbeiten der Turners ist schließlich so getaktet, dass einfach nichts schiefgehen darf – und damit erreicht der Film den relevanten Punkt. Denn das Leben in Gesellschaft lief früher einmal auf gemeinsam erarbeitete Absicherungen hinaus, während Loach seit bald 60 Jahren dabei zusieht, wie dieses System wieder zerfällt. Sorry We Missed You ist einer seiner besten Filme gerade deswegen, weil er sich beinahe selbstverständlich in eine Reihe mit früheren Werken wie The Navigators oder I, Daniel Blake stellt. Loach geht es nicht darum, sich selbst immer wieder zu übertreffen. Ihn interessiert die einfache Kontinuität einer Zeugenschaft. So gewinnen seine Filme gerade in ihrer Unscheinbarkeit historische Bedeutung. (Bert Rebhandl, 26.2.2020)