Das 20-zeilige Mysterium an der bretonischen Küste.
Foto: APA/AFP/FRED TANNEAU

Die Gegend um den französischen Küstenort Plougastel-Daoulas war bis vor kurzem in Frankreich allenfalls für seine hervorragenden Erdbeeren der Sorte Gariguette bekannt. Die 13.000-Einwohner-Gemeinde auf einer Halbinsel im äußersten Nordwesten der Bretagne besitzt sogar ein eigenes Erdbeermuseum. Im vergangenen Jahr aber war es mit der beschaulichen Ruhe plötzlich vorbei: Eine rätselhafte Inschrift auf einem Felsen an der Atlantikküste zog Experten und Amateurkryptologen aus aller Welt an. Verantwortlich für diesen Aufmarsch war Dominique Cap, der Bürgermeister des Ortes.

Nachdem sich lokale Fachleute jahrelang vergeblich um eine Übersetzung der mysteriösen Gravuren bemüht hatten, setzte Cap nämlich im Mai 2019 ein Preisgeld von 2.000 Euro für diejenigen aus, die es schaffen sollten, das Geheimnis auf Basis fundierter Recherche und seriösen Quellen zu lüften. Die Deadline für die Einreichung der potenziellen Lösungen lief am 30. November ab. Bis dahin wurden aus mehreren hundert eingesandten Vorschlägen 61 in die engere Wahl genommen.

Wer weiß, was das bedeuten mag?
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Plausible Ergebnisse

Die meisten Teilnehmer kamen aus Frankreich, aber auch Tüftler aus Italien, Spanien und Russland, aus den USA und Brasilien sowie aus den Vereinigten Arabischen Emiraten waren mit dabei. Nun stehen zwei "Gewinner" fest, die nach Ansicht der Fachjury die plausibelsten Ergebnisse präsentierten. Beide vorgelegten Interpretationen der Schriftzeichen weisen inhaltliche Parallelen auf.

Die Inschrift, um die sich der ganze Trubel dreht, wurde einst in die Oberfläche eines etwa einen Meter hohen Felsens geschlagen und ist unter den Einwohnern der Gegend schon länger bekannt. Schriftlich erwähnt wurde sie aber erstmals im Jahr 1979. Der Felsbrocken befindet sich an einer schwer zugänglichen, nur bei Ebbe erreichbaren Stelle am Fuß einer Steilküste. Der 20-zeilige Text besteht größtenteils aus herkömmlichen Blockbuchstaben, immer wieder tauchen aber auch auf dem Kopf stehende Buchstaben und das in Skandinavien verwendete Zeichen "ø" auf. Darüber hinaus kommen die Jahreszahlen 1786 und 1787 sowie ein eingraviertes Schiff und ein Kreuz vor.

Am Rand des Felsens neben dem Text sind ein Schiff und ein Kreuz eingeritzt.
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Baskisch oder Bretonisch?

Aus den Jahresangaben hatte man geschlossen, dass die Inschrift kurz vor der Französischen Revolution (1789) angefertigt worden war. Was die Sprache betrifft, in der die Botschaft verfasst ist, gingen die Meinungen bisher auseinander. Einige hielten sie für Baskisch, andere wollten darin Bretonisch erkannt haben. Letztere dürften nun offenbar Recht behalten.

Die beiden von der Jury aus Historikern und Sprachwissenschaftern der Universität Brest ausgewählten Übersetzungen unterscheiden sich zwar in vielen Details, weisen aber auch einige markante Ähnlichkeiten auf: Die erste mögliche Lösung des Rätsels wurde von dem Franzosen Noël René Toudic vorgelegt, einem Keltologie-Experten und Englischlehrer. Seiner Ansicht nach wurde die Inschrift von einem Menschen mit eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten angefertigt, dessen Muttersprache altes Bretonisch war.

Auf diesem Ausschnitt ist links unten die Jahreszahl 1786 zu erkennen.
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Vom Meer geholt

Toudics Hypothese lautet, dass in dem Text das Schicksal eines Soldaten namens Serge Le Bris beschrieben wird, der während eines Sturms im Meer ertrank. Verfasst wurde der Text demnach von einem Mann mit dem Namen Grégoire Haloteau, und zwar zur Ehrung seines ums Leben gekommenen Kameraden. Nach der Übersetzung von Toudic lautet eine Schlüsselstelle: "Serge, der nicht rudern konnte, starb, weil sein Boot im Wind kenterte.[…] Mein Name steht hier auf dieser Stele/ am heutigen 8. Mai 1786."

Die beiden "Gewinner" Roger Faligot (rechts) und Noël René Toudic teilen sich das Preisgeld von 2.000 Euro.
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Erschlagener Freund

Zu einem etwas anderen Resultat kam der französische Historiker Roger Faligot. Auch er glaubt, dass es sich um einen bretonischen Text handelt, allerdings mit Einsprengseln in walisischer Sprache. Inhaltlich soll es seiner Hypothese nach um einen Mensch gehen, der zornig ist über den Tod eines Freundes, für den er andere Personen verantwortlich macht. Eine Zeile aus Faligots Translation lautet: "Er war die Verkörperung von Mut und Lebensfreude. Irgendwo auf dieser Insel wurde er erschlagen und ist nun tot."

Beide Übersetzungsvarianten in voller Länge kann man hier in französischer Sprache nachlesen. Welche der beiden Interpretationen nun – falls überhaupt – tatsächlich zutrifft, muss von weiteren Experten geklärt werden. Bis das Geheimnis um die in Fels geritzte Schrift also vollständig gelüftet wird, sei es noch "ein längerer Weg", räumte Bürgermeister Cap ein. (tberg, 25.2.2020)