Demokratie ist nicht nur ein Marktplatz der Ideen, sondern auch ein Marktplatz der Erzählungen. Nie zeigt sich dies deutlicher als in Wahlkämpfen und nirgends in so kristalliner Form wie in den USA, dem Land der unbeschränkten Erzählmöglichkeiten. Ein Reality-TV-Star hat die Präsidentschaft zu seiner Show gemacht, und die Opposition spielt eine Vielzahl von Erzählvarianten durch, um eine überzeugende (und einende) Gegenerzählung zu finden. Einflussreiche Händler auf diesem Marktplatz sind auch Journalistinnen und Journalisten, die nicht nur selbst erzählen, sondern auch Erzählungen bewerten und kollektiv spezifische Erzählstränge entwickeln – teils bewusst und parteiisch, teils unbewusst und mitunter unbedarft.

Erst kürzlich hat die Ombudsfrau der "Washington Post" der Branche vorgeworfen, sich einmütig in den einen oder die andere Kandidatin der Demokraten zu verlieben, um ihn oder sie dann nach kurzer Dauer zugunsten des oder der Nächsten fallenzulassen. Eine Folge des Herdentriebs sei aber auch, dass es ein politisches Mauerblümchen gibt, dem die Zuneigung der journalistischen Elite versagt bleibt: Bernie Sanders. Kurios, wenn man bedenkt, wie erfolgreich der selbstdeklarierte Sozialist bisher abgeschnitten hat. Woher kommen diese kollektiven Erzählmuster, und warum sind sie so beständig?

Bernie Sanders im Interview.
Foto: APA/AFP/LOGAN CYRUS

Die Logik der Erzählung

Die Dominanz dieser Erzählungen (und die kalte Schulter gegenüber Sanders) hat sicherlich mit Weltanschauung zu tun. US-Journalisten gelten zwar gemeinhin als linksliberal, schrecken aber vor dem Gespenst des von Sanders propagierten Sozialismus reflexartig zurück. Gleichzeitig ist aber mehr als Ideologie im Spiel, wenn sich die journalistischen Erzählungen über die Kandidaten so ähneln und überlagern. Dahinter steht eine Logik, die permanent neue Drehungen und Wendungen verlangt, neue Handlungsstränge und Szenenwechsel, neue Protagonisten und Gegenspieler, Aufsteiger und Absteiger – kurz gesagt, die Logik der Erzählung. Vermengt mit einer politischen Kultur, die Information mit Entertainment mischt, nimmt dann die tägliche Seifenoper ihren Lauf.

In der Forschung werden derartige Effekte oftmals als "horse race journalism" definiert, politische Berichterstattung als Pferderennen, Journalismus, der mehr daran interessiert ist, Gewinner und Verlierer zu küren, anstatt Inhalte und Konzepte zu prüfen. Die Folgen dieser Praxis sind mitunter beunruhigend, wie Studien belegen. "Horse race journalism" kann, insbesondere in Verbindung mit fehlerhafter Interpretation von Meinungsumfragen, das Misstrauen gegenüber Politikern und Medien erhöhen, Zynismus und Unwissenheit befördern sowie ungewöhnliche Kandidaten (siehe Donald Trump) bevorzugen und Frauen benachteiligen.

Erzählerischer Journalismus

Gleichzeitig muss aber auch festgehalten werden, dass Journalistinnen und Journalisten selbst im Wettbewerb stehen, weil die Politik ihre Erzählungen am liebsten ohne journalistische Beteiligung unter die Leute bringt. Donald Trump twittert, Michael Bloomberg gibt Millionen für Werbespots aus, Bernie Sanders setzt auf Mobilisierung in den sozialen Medien. All das mag für den Journalismus ein Nachteil sein, es verdeutlicht allerdings lediglich den neuen institutionellen Kontext für politische Erzählungen, umso mehr, als diese Strukturen oftmals von den privaten Interessen der technologischen Plattformen (zum Beispiel Facebook, Twitter) abhängig sind.

Was kann der Journalismus angesichts dieser Unübersichtlichkeit auf dem Marktplatz der Erzählungen noch ausrichten? Traditionelle Stärken ausspielen (Fakten prüfen, investigativ recherchieren, die Message-Control hinterfragen) und neue Formate nützen (Community Engagement, das heißt, mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen – online und offline). Aber Journalismus kann auch in dem ihm ureigenen Bereich der Erzählung Impulse setzen. Erzählerischer Journalismus kann die Macht der Narrativität ausschöpfen, um zum Beispiel biographische Hintergründe der zentralen politischen Akteure auszuleuchten. Unterfüttert mit tiefgründiger Recherche kann die journalistische Erzählung persönliche Eigenschaften und Lebensentscheidungen nuanciert zu Charakterstudien zusammenfügen. Eindrucksvoll gelingt dies der "New York Times", die in der Serie "The Long Run" markante Momente im Leben der Präsidentschaftskandidaten und -kandidatinnen analytisch nacherzählt. Politische Porträts allein sind natürlich kein Allheilmittel, aber sie vermögen es, komplexe Charaktere und ihre Motivationen anschaulich zu beschreiben. Schließlich ist es nicht unwesentlich, was Menschen antreibt, nach Macht und Führung zu greifen. (Thomas Schmidt, 27.2.2020)