Die Eis- und Schneepiste führt uns zwanzig Kilometer über den geschützten Nebenarm des großen Sees. Im Westen liegen die majestätisch-weißen Bergkämme der Heiligen Nase. Vom Ufer aus erstreckt sich urtümlicher Wald, bestehend aus Birken und Kiefern, bis auf halbe Berghöhe.

Wie Eiswellen brandet der starre See gegen das Gebirge.
Foto: Christoph Ruhsam

Richtung Norden und Osten liegt die ebene Bucht, über der sich kältebedingte Fata Morganas bilden: Eigenartige Farbpunkte sind in der Ferne im omnipräsenten Weiß zu sehen, und um eine weitere Insel im Osten glauben wir offenes Wasser über der weißen Ebene schweben zu sehen. Wir haben doch gar keinen Wodka getrunken! Mit der Zeit verändert sich die Lage dieser Phänomene, und ich beginne zu verstehen, dass die Farbpunkte die bunten Hütten und Jurten der Eisfischer sind, die über den Horizont gehoben und zu Fantasiegebilden verzerrt werden. Natürlich gibt es auch kein offenes Wasser um die Insel. Das sind Kälteseen in der Luft, die dort flimmern.

Kältebedingte Luftverzerrungen im Eis.
Foto: Christoph Ruhsam

Eisiger Kristallgrotten unglaubliche Schönheit

Wir begegnen einigen Autos – Eislochfischer auf dem Weg zu ihrem Plätzchen. Ein stinkender Lastwagen kämpft sich durch die Kälte und transportiert eine Ladung Brennholz, vermutlich als Futter für die Eislochfischeröfen in den Schlittenkufenhütten oder in den burjatischen Jurten. Direkt im Norden taucht nun unser Ziel Ostrov Lokhmatyy als weißer Walbuckel auf, der sich über den weißen Horizont erhebt.

Holztransport über den See.
Foto: Christoph Ruhsam
Die Kormoraninsel Ostrov Lokhmatyy.
Foto: Christoph Ruhsam

Auf der Erhebung sieht man einen spärlichen Lärchenbestand, der eigenartige Verdickungen in den Ästen der Bäume trägt. Mit dem Fernrohr kann ich erkennen, dass das vermutlich Vogelnester sind. Gespannt wandert jeder für sich über das Weiß der Bucht, bis wir das felsige Ufer der Insel erreichen.

Die Sonne scheint unbarmherzig herab und würde uns in Kürze schneeblind werden lassen, hätten wir nicht gute Sonnenbrillen auf. Die Felsen sind wieder mit feinstem Eis überzogen. Riesige Eiszapfen hängen von oben herab, und in den Felsnischen bilden sich eisige Kristallgrotten unglaublicher Schönheit.

Foto: Christoph Ruhsam

Über mir ein Eispalast

Wir haben dieses Phänomen schon an der Westküste des Sees und auf der Insel Olchon erlebt und bestaunt. Auf dem Rücken liegend kann man in diese Höhlen hineinrutschen, dort, wo im Sommer wildes, tiefes Wasser strömt. Dieser gefrorene Aggregatzustand ist schon etwas Besonderes! Man kann berauscht davon werden, wenn man die Farben und Formen des Eises auf diese Art auf sich wirken lassen kann. Ich finde sogar einen kleinen Durchbruch zwischen zwei Höhlen und wage es, am Rücken durchzurutschen. Eigentlich vertrage ich das Engegefühl gar nicht, aber es ist doch so bezaubernd, und das erlaubt mir, den Angstzustand auszublenden. Unter mir schwarzes, mit feinen weißen Adern durchzogenes Baikaleis, darunter zig Meter tiefes Wasser. Über mir ein Eispalast, der durch einige Sonnenstrahlen das Höhleninnere erahnen lässt.

Kristallwelten in Sibirien.
Foto: Christoph Ruhsam

Gefriertrocknung à la Sibirien

Hin und wieder durchbricht das explosionsartige Knacken der Eisschicht das flüsternde Schweigen. Anfangs hat man starke Bedenken, ob das nicht Unheil verkündet und man in Kürze auf den Boden des Sees sinken wird. Aber die Erfahrung lehrt, dass man mit Umsicht davor keine Angst zu haben braucht. Einmal allerdings bricht beim Queren eines frischen Risses das Oberflächeneis. Es war noch zu dünn und durch angewehten Schnee zwischen den großen Eisblöcken verdeckt. Das rechte Bein verschwindet bis zur Hüfte im Wasser, das rundherum herausquillt. Innerhalb weniger Minuten ist die nasse Hose gefroren, das Eis bricht durch das Gehen in kleinen Stücken ab und trocknet dadurch die Hose – Gefriertrocknung à la Sibirien. Wir führen leider keinen Ersatz im Rucksack mit. Der Schrecken bleibt uns in den Knochen und schärft unsere Aufmerksamkeit bei der Querung von Eispressungen.

Kormorankolonie vor der Heiligen Nase.
Foto: Christoph Ruhsam

Wir finden am westlichen Ufer eine Möglichkeit, über die Felsen auf die Insel hinaufzuwandern, hin zu den Vogelnestbäumen. Was ist das wirklich? Aus der Nähe erkennen wir, dass jeder Baum viele große Nester aus grobem Astwerk trägt. Die Nester sind weiß vom Kot der Vögel, die in Ermangelung einer Steilküste mit den Gegebenheiten leben müssen und derartig große Nester schaffen. Kormorane müssten das sein. Und da hängt auch wirklich einer, gefriergetrocknet baumelt der Körper eines jungen Vogels vom Nest herunter, der es offensichtlich nicht geschafft hat, dem Winter zu entkommen.

Gefriergetrockneter Kormoran.
Foto: Christoph Ruhsam

Sonst sind alle Nester verlassen, leer und wirken surreal in dieser Winterlandschaft hoch über dem See mit Blick auf die Barguzin-Gebirge im Osten und die Heilige Nase im Westen. Das ist wahrer Winter! Man riecht förmlich die sterile Kälte, Atemdampf gefriert zu einem Nebelwölkchen ums Gesicht, und die bizarren Bäume mit den Nestern bilden den Hintergrund. Fuchsspuren verlaufen im Schnee, aber auf die Vogeleier wird er noch länger warten müssen, bevor im Frühjahr die Kormorankolonie wieder besiedelt werden wird. Wir überqueren die Insel und steigen und rutschen am südlichen Ende hinab zum See. Einige Bäume sind sichtlich abgestorben und schwarz verkohlt. Schon mehrmals haben wir in den Wäldern und Steppenlandschaften um den Baikalsee Waldbrandreste gesehen. Die Hitze des Sommers und der geringe Jahresniederschlag von nur einigen Hundert Millimetern sorgen dafür, dass durch unachtsames Feuermachen große Flächen abgefackelt werden können.

Sibirische Steppen erhalten minimalen Niederschlag.
Foto: Christoph Ruhsam
Sommerliche Brände schädigen die Taiga.
Foto: Christoph Ruhsam

Aber Sibirien ist weit – und daher kann da nicht viel dagegen getan werden. Die globale Klimaerwärmung spielt dabei zunehmend eine bedeutende Rolle und verschärft die Trockenheit und die sommerliche Hitze. Im Winter ist das kaum zu glauben, aber auch die Winter werden milder. Konnte es vor ein paar Jahrzehnten noch minus vierzig bis fünfzig Grad über mehrere Wochen lang kalt sein, sind es in den letzten Jahren nur noch minus zehn bis minus dreißig Grad. Das Eis bildet sich daher auch langsamer und wird später tragfähig.

Schienen übers glatte, meterdicke Eis verlegt

Solange die Transsibirische Eisenbahntrasse von Irkutsk im Südwesten noch direkt am Seeufer verlief, wurden im Winter die Schienen einfach übers glatte, meterdicke Eis verlegt, und so wurde der See von durch Pferde gezogenen Zügen gequert, wo im Sommer auf eine Dampffähre mühsam verladen werden musste. Kann man sich das vorstellen, zig Tonnen schwere Dampfloks und Waggons dem Eis des Sees anzuvertrauen? Angeblich ging dabei auch die eine oder andere Lok auf dem Seegrund verloren. Bei unserer Seequerung bestand der Konvoi aus vier Mannschaftswagen – zusammen wogen die sicherlich fast zehn Tonnen und standen in wenigen Metern Abstand auf dem Eis des Sees nebeneinander. Unglaublich tragfähig ist das Eis, nicht nur schön!

Mehrere Tonnen ist der Fahrzagkonvoi schwer.
Foto: Christoph Ruhsam
Allgegenwärtiges Eis.
Foto: Christoph Ruhsam

Wir sind von der Insel wieder herunter und werden von Andrei im Transporter aufgenommen. Der Tag soll an einer heißen Quelle zu Ende gehen. Wir haben keine genaue Vorstellung davon, was uns erwartet. Die Erfahrung isländischer Badequellen, wie wir sie im Hochland gefunden hatten und so erfreut über die unerwartete warme Waschmöglichkeit gewesen waren, blitzen in unseren Gedanken auf. Aber in Sibirien ist das anders. Hier wird mit Holz eine Sitzwanne gestaltet, und über die vereiste Holzleiter steigt man bei minus einundzwanzig Grad Lufttemperatur in das vierzig Grad heiße Thermalwasser.

Ob das der Körper aushält? Anfangs problemlos, empfindet man doch das Sitzen in der heißen Brühe als echte Entspannung. Aber vierzig Grad sind einfach zu heiß für den Körper. Nach fünf Minuten bekommt man erhöhten Herzschlag und überlegt, wie es weitergehen wird, wenn man wieder in die sibirische Winterkälte klettert. Aber wie nach einer Sauna – Banja heißt das hier – ist das Gefühl wunderbar, und man steht gerne einige Minuten in der gleißenden Sonne, bevor man sich abtrocknet und wieder ankleidet. Dann geht es zurück zum Heim von Ludmilla und Andrei.

Sibirischer Winteralltag.
Foto: Christoph Ruhsam

Ein Wintersturm treibt Schnee über die Bucht und verweht die Piste. Andrei muss langsamer fahren, aber es drängt uns nichts an diesem Wintertag. Nochmals werden wir mit einer Omulsuppe, Brot, Keksen und Tee zur Jause beschenkt. Durch die menschliche Wärme erfahren wir den sibirischen Winter und dessen Eiseskälte als Ort der Freude und sind dankbar für diese herzliche Gastfreundschaft. Andrei bringt uns in der beginnenden Dämmerung zurück nach Ust Barguzin. In Gedanken versunken blickt jeder durch das selbstgekratzte Loch aus dem vereisten Fenster: Birken und Kiefern, Stille und Kälte, Licht und Schatten, Schnee und Eis, Winter und Dankbarkeit: Der Mystiker in uns fragt nicht nach dem Wofür. Alles ist, wie es ist, und weil es ist, ist es gut. "Sunder warumbe" – ohne Warum, lehrt uns Meister Eckhart seit dem vierzehnten Jahrhundert. (Christoph Ruhsam, 28.2.2020)