Das Stück "Cry Me A River" war seiner Zeit voraus: Schon vor zehn Jahren hat diese Solo-Klimakonferenz der Schauspielerin Anna Mendelssohn den Klimawandel mit theatralen Schmelzwassertränen beweint.

TimTom

Kein Begriff der letzten Jahre zeigt eine derart steile Relevanzkurve an wie der des Anthropozäns. Mit Anthropozän meint man das "menschengemachte Zeitalter", also jene geologische Phase auf Erden, in der der Einfluss des Menschen grob verändernde Wirkung aufweist, konkret seit Beginn der industriellen Revolution. Heute, 200 Jahre später, zeigt die Klimaerwärmung längst sichtbare Folgen. Gletscher schmelzen, Permafrost taut, Landstriche versinken im Meer, darunter übrigens auch die Marshallinseln, das ehemalige Atomwaffentestgelände der USA.

Welche Konsequenzen künftige Generationen hinzunehmen haben, ist nicht exakt berechenbar, aber vorstellbar. Die Science-Fiction betreibt die heftige Zukunftsschau schon seit langem und ist selbst ein Kind des akzelerierten Fortschritts. Wissenschaft und Kunst haben über die Science-Fiction eine vergnügliche Verbindung aufgebaut. Sich aus dem Unterhaltungssegment emanzipierend, werden Sci-Fi-Stoffe heute aber auch immer mehr vom Theater beansprucht. Dem Theater, der uralten Bühnenkunst, fällt in Zeiten der Zukunftspanik eine neue Rolle zu. Der Begriff des Dramas lädt sich noch einmal neu auf: Neben dem Schmerz des Menschen unter Menschen (Tschechow, Jelinek und Co) soll das Theater künftig auch den Schmerz des Einzelnen der Welt gegenüber ansprechen.

Empathie, Poesie

Zumindest wenn es nach Frank Raddatz und Antje Boetius geht. Der Dramaturg und die Meeresbiologin starten in diesem Frühjahr an der Humboldt-Universität in Berlin ein Projekt, in dem Wissenschaft und Gesellschaft einander näherrücken sollen. Die "Kompetenzen" des Theaters – also Sinnlichkeit, Emotion, Imagination, Poesie, Empathie – treten in den Dienst der Wissenschaft und ihrer Anliegen (die auch unsere sein sollten).

Es geht darum, das Wissen um unseren Planeten und seine Ökosphäre bzw. die Konsequenzen unseres Handelns erleb- und fühlbar zu machen. Das ist Sinn und Zweck des Theaters des Anthropozäns. "Entwickelt wird ein Prototyp einer Bühne, die sich den Herausforderungen einer in Bewegung gekommenen Natur stellt, die ihr Recht einfordert, angehört zu werden", schreibt Frank Raddatz im Gründungstext, dessen 13 Thesen im Februarheft des Fachmagazins "Theater der Zeit" (2/2020) abgedruckt sind.

"I want you to panic"

Über das Wissen über anthropozäne Fakten, etwa die Folgen des immensen CO2-Ausstoßes, verfügen wir schon lange, nur handeln wir – und da vor allem die Politik – nicht danach. Deshalb muss eine junge Frau immer wieder auf Klimagipfeln oder beim Weltwirtschaftsforum "I want you to panic" predigen. Greta Thunberg will, genauso wie das Theater des Anthropozäns, dass Menschen ihr Tun bzw. Unterlassen im Schock begreifen. Dem Dramaturgen Raddatz fällt es leicht, dahingehend die entsprechenden Zitate der Theatergeschichte in Stellung zu bringen: "Die erste Gestalt des Neuen ist der Schrecken" (Heiner Müller). Oder: "Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen" (Paul Celan). Oder: "Das wahre Theater ist mir immer wie die Übung einer gefährlichen und schrecklichen Handlung erschienen" (Antonin Artaud).

Beim Theater des Anthropozäns soll weder die Kunst ihrer Freiheit noch die Wissenschaft ihrer Sachlichkeit beraubt werden. Boetius und Raddatz wollen deren Differenz nicht aufweichen, Klimafakten und Bühnensprache aber zusammenführen. Frank Raddatz legt 13 Thesen zum Theater des Anthropozäns dar. Ziel ist es (nicht unähnlich dem Genter Manifest von Milo Rau), mit dem Theater auf die Realität einzuwirken. Raddatz träumt etwa in Punkt zehn vom "Handlungsdruck", der über eine wachgerüttelte Zivilgesellschaft auf Lobbyisten, Politiker und Konzerne mutmaßlich ausgeübt werden wird.

Überkommene Utopien

Aber wie soll das gehen, zumal das Theater ja jetzt schon nur ein schmales Segment eines potenziellen Publikums erreicht? Im Windschatten diverser Green New Deals soll eine große, ja: global vernetzte Plattform entstehen, die von Kulturlaboren, Inszenierungen, transdisziplinären Initiativen usw. ihren Ausgang nimmt und die sich vor allem außerhalb der Theaterhäuser festsetzt, in Schulen, in urbanen wie ruralen Landschaften, in Gerichtssälen.

Das Projekt steht noch ganz am Beginn. Den Anfang macht am 7. März Requiem für einen Wald im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität Berlin. Die Kunst soll vorangehen, um die überkommenen Utopien der Moderne – die Vorstellung vom ewigen Wachstum und vom Reichtum für alle – zu dekonstruieren.

Wie andere Künste auch, befasst sich das Theater seit einigen Jahren schon mit Klimafragen. Zeitgenössische Stücke imaginieren nahe und ferne Zukünfte, etwa das im Herbst in Wien uraufgeführte Drama Der letzte Mensch von Philipp Weiss, Anja Hillings bereits 2008 uraufgeführtes Nostalgie 2175 (die Erde hat sich auf 60 Grad erwärmt) oder Die Klimatrilogie von Thomas Köck.

Schon 2010 hat die Wiener Schauspielerin Anna Mendelssohn in ihrem Stück Cry Me A River unter Aufgebot von Schmelzwassertränen eine bis heute nachhallende Arbeit vorgelegt. Mendelssohn verwob Stimmen von Politikern, Wissenschaftern, Aktivisten und Dichtern zu einem offen um Empathie werbenden Gedankenstrom. Die Gruppe Rimini Protokoll simulierte am Schauspielhaus Hamburg 2014 eine Weltklimakonferenz. Tobias Rausch startete 2010 sein Botanisches Langzeittheater in Hannover, und 2011 schon hatte Davis Freemans CO2-Performance Expanding Energy bei der Sommerszene Salzburg Uraufführung.

Ein halbes Kilo CO2

Eine veritable Handlungsanleitung gab die Wiener Gruppe Toxic Dreams in ihrer The 100 % Environmental Friendly Show (2012) aus. In der Show stand der ökologische Fußabdruck der eigenen Theaterproduktion zur Debatte. Ein 1000-Watt-Scheinwerfer allein erzeugt pro Stunde etwa ein halbes Kilo CO2. Das Publikum sollte sich bereiterklären, diese "unfriendly" Bilanz im eigenen Handeln, z. B. Dusche statt Vollbad, auszugleichen. Das Hans-Otto-Theater in Potsdam hat jüngst sogar eine Arbeitsgruppe "Klimawandel und Theater" gegründet. Das könnte an anderen Häusern Schule machen.

Auch wenn das Theater des Anthropozäns noch vage ist, so ist dennoch zu erwarten, dass Klimakrisenstücke auf den Spielplänen der kommenden Saison 2020/21 häufig anzutreffen sein werden. Es ist das drängende Thema der Gegenwart, dem sich das Theater nicht verschließen wird können. Wir wechseln, um mit Donna Haraway zu sprechen, von der Postmoderne in die Kompostmoderne. (Margarete Affenzeller, 27.2.2020)