Die Höhe der Sozialhilfe beeinflusst die Wohnortentscheidungen, die Asylberechtigte treffen. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie. Für Bernhard Kittel und David W. Schiestl vom Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien mag das zwar ein Faktor sein, aber noch kein zentraler Befund. Warum, erklären sie im Gastkommentar.

Wieder einmal wird die Behauptung, der Sozialstaat sei ein Magnet für Geflüchtete, durch die Medien gejagt, diesmal ist die Quelle ein noch unveröffentlichtes Papier einer Doktorandin der Ökonomie in Innsbruck, Fanny Dellinger, und eines Forschers am Wifo, Peter Huber. Die Studie beschreibt, dass viele Geflüchtete, die in Niederösterreich Asyl erhalten haben, nach Wien gezogen sind, nachdem die Zuwendungen in Niederösterreich gesenkt worden waren. Aus diesem Umstand wird geschlossen, dass es die großzügigeren Sozialleistungen Wiens sind, die diesen Effekt verursacht haben. Es mag sein, dass dieser Faktor gelegentlich mitspielt. Aber bevor diese Interpretation als zentraler Befund in die Öffentlichkeit gesetzt wird, ist zu prüfen, ob nicht alternative Erklärungen, die in der wissenschaftlichen Literatur wesentlich besser abgesichert sind, auch in diesem Fall geeigneter sind, den Umzug von Geflüchteten von Niederösterreich nach Wien zu erklären.

Laut einer neuen Studie führte die Kürzung der Mindestsicherung in Niederösterreich 2017 dazu, dass mehr Asylberechtigte nach Wien zogen.
Foto: Heribert Corn

Die großzügigeren Leistungen der Wiener Sozialhilfe werden von den Lebenshaltungs-, insbesondere Wohnkosten, die in Wien deutlich höher sind als in Niederösterreich, mehr als kompensiert. Wien hat aber genauso wie alle Metropolen der Welt generell eine enorme Anziehungskraft auf aufstrebende Menschen aus der Umgebung. Dies gilt für junge Menschen aus ländlichen Regionen ebenso wie für Geflüchtete, die die Willkür des Zuteilungsmechanismus in ein niederösterreichisches Dorf verschlagen hat.

Tiefergehende Analyse

Im konkreten Fall ist an allererster Stelle die schon große Population von Personen mit Migrationshintergrund in Wien zu nennen, die neu zugelassene Asylberechtigte eine größere Chance auf soziale Integration erhoffen lässt. Wo befinden sich andere Mitglieder der Familie oder Freunde? Daten des European Social Survey mit Schwerpunkt Migration deuten darüber hinaus auch auf eine deutlich negativere Haltung in der niederösterreichischen Bevölkerung gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund hin.

Dies wird zweitens ergänzt durch eine wesentlich besser ausgebaute öffentliche Infrastruktur und eine auch für nichtmotorisierte Menschen gut funktionierende und breit gefächerte Nahversorgung, die Geflüchteten Bewegungsfreiheit gibt und es ihnen leichter macht, Elemente ihres gewohnten Lebens beizubehalten.

Push-, nicht Pull-Faktor

Drittens ist genauer zu fragen, wer die Geflüchteten sind, die nach Wien gezogen sind, sobald sie einen Aufenthaltsstatus hatten. Welche Chancen auf einen ihren Qualifikationen entsprechenden Arbeitsplatz haben sie in Niederösterreich und Wien? Welchen Beruf streben sie an, und wo werden die entsprechenden Ausbildungen angeboten? Solche Fragen lassen sich nicht einfach mit ein paar statistischen Daten beantworten, sondern sie brauchen eine tiefergehende Analyse auf der Grundlage von Umfragedaten oder, wenn es um das Verstehen der individuellen Motivation geht, Interviews.

Bei der Abwägung, wo jemand leben will, spielen somit viele Faktoren eine Rolle. Selbst wenn Geflüchtete auf die Höhe der Sozialleistungen reagiert haben, so ist die Interpretation, es handle sich um einen Pull-Faktor Wiens und nicht um einen Push-Faktor Niederösterreichs, gelinde gesagt, gewagt. Menschen ihre momentane Lebensgrundlage wegzunehmen, wie dies die Absenkung der Mindestsicherung für Geflüchtete in Niederösterreich bedeutet hat, wird diese Menschen veranlassen, einen Weg zu suchen, ihr Überleben zu sichern. Für einige mag dies den Ausschlag gegeben haben, neue Perspektiven in Wien zu suchen. Daher ist der Titel, den DER STANDARD dem Artikel gegeben hat, genau falsch herum formuliert: Nicht Wien zieht an, sondern Niederösterreich stößt ab. (Bernhard Kittel, David W. Schiestl, 27.2.2020)