„Mama, das sind wahre Helden, oder?“, fragt mich meine zehnjährige Tochter. Die Helden heißen Fanny, Robert, Arnold oder Trudy und sind zwischen 90 und 96 Jahre alt. Sie sind jüdischer Herkunft, aus Wien kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geflohen und leben heute in New York. Ihre Lebensgeschichten und Erinnerungen an das Wien ihrer Kindheit sind unterschiedlich, auch das erlebte Trauma variiert stark. Während einige regelmäßig Österreich besucht haben und häufig Deutsch reden, wäre das für andere unmöglich, zu schmerzhaft und emotional. Die Erinnerungen an das erlebte Grauen und der Gebrauch der Muttersprache treiben ihnen noch heute manchmal Tränen in die Augen.

Ich denke an Mozart, sie denken an Hitler

Ich bin gebürtige Österreicherin und lebe seit fast zwei Jahrzehnten an der amerikanischen Ostküste. Von Anfang an erschütterten mich häufige Begegnungen mit jüdischen New Yorkern österreichischer Herkunft und ihre Familiengeschichten zutiefst. Nichts was ich in meiner Schule im Salzburg der 1970er- und 1980er-Jahre über den Zweiten Weltkrieg und Österreichs Rolle darin gelernt hatte, bereitete mich auch nur im Geringsten darauf vor.

Mein erstes Zimmer in New York mietete ich beispielsweise bei einer im Stadtteil Queens lebenden Frau, die mir erklärte, sie würde aus Angst vor antisemitischen Vorfällen nie nach Österreich oder Deutschland reisen. Glücklicherweise konnte ich sie trotzdem davon überzeugen, mich als Untermieterin bei sich aufzunehmen, wir waren bis zu ihrem Tod miteinander befreundet. Ob in der Metropolitan Opera, in der Gemüseabteilung im Supermarkt, beim Optiker oder beim Abendessen mit Freunden und Arbeitskollegen, es werden mir Fluchtgeschichten erzählt, Familienfotos am Handy gezeigt, deutschsprachige Ausreisedokumente unter die Nase gehalten oder Besuche in der alten Heimat beschrieben. Bei einem Elternabend in der Schule meines Sohnes sitze ich neben einem Herrn Uhrmacher, dessen Großvater eine Wohnung und ein Schuhgeschäft in Wien besessen hatte, in der Klasse meiner Tochter war ein Familienangehöriger mit einem Kindertransport aus Wien geflohen.

Das Geschäft der Familie Uhrmacher in Wien.
Stella Schuhmacher

Zu meiner Überraschung packen mich Betroffenheit und Scham, ein Gefühl der Mitschuld breitet sich in mir aus. Ich entschuldige mich für mein Herkunftsland und realisiere zum ersten Mal, wie nah die Zeit des Nationalsozialismus und der Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs für viele Menschen in New York ist, wie unmittelbar die Erinnerungen. 

„Sind Sie net die . . . aus Wien?“

Der Stadtteil Upper West Side in Manhattan war während des Zweiten Weltkriegs ein riesiges Auffangbecken für österreichische Flüchtlinge, man konnte sich mühelos auf Deutsch durchschlagen. Es gab österreichische Bäckereien und deutschsprachige Zeitungen. Wenn man damals den Broadway hinunterspazierte hörte man angeblich so oft die Frage „Sind Sie net die . . . aus Wien?“, dass man darüber scherzte, ob man die Straße nicht in Cincinnati Avenue („sinsineti“) umbenennen sollte. Der Stadtteil Washington Heights im Norden Manhattans, in dem sich viele deutschsprachige Auswanderer niederließen, wurde von ihnen als "Viertes Reich" und "Frankfurt am Hudson" bezeichnet.

Diese österreichisch-jüdischen Wurzeln vieler New Yorker haben bis heute ihre Spuren im täglichen Sprachgebrauch der Stadtbevölkerung und im Stadtbild hinterlassen. New Yorker sagen zum Beispiel shlep oder shlep around, shmooze, schmutz, schmaltz, mensch, schwitz, spiel oder schmuck. Es gibt eine Umzugsfirma, die Shleppers heißt. Die besten Bagels in meiner Gegend kaufe ich bei Zucker's Bagels, und auch Linzer Cookies und Applestrudel findet man häufig.

Linzer Kekse neben Rugelach und Hamentaschen, jüdischen Backwaren.
Stella Schuhmacher
Umzugsfirma
Stella Schuhmacher

Café Éclair

Das Wiener Kaffeehaus Éclair auf der 72. Straße auf der Upper West Side war ein beliebter Treffpunkt unter den jüdischen Auswanderern und Flüchtlingen und wird häufig in den Erzählungen über die Vergangenheit erwähnt. Es war 1939 von Alexander Selinger, einem Flüchtling mit tschechisch-italienischen Wurzeln, gegründet worden. Die gut ausgebildeten Kellner des Éclair, die ebenfalls Emigranten waren, sprachen sich angeblich gegenseitig mit „Doktor“ an. Der Eingangsbereich des Kaffeehauses war schmal, mehr Platz mit Sitzmöglichkeiten gab es im hinteren Bereich. Manche kamen täglich hierher, um Gulasch, Kaffee mit Schlag oder Wiener Schnitzel zu konsumieren. Bevor sie Platz nahmen blätterten sie im Gästebuch, das beim Eingang lag, auf der Suche nach den Namen anderer Vertriebener und Überlebender.  Bis 1996, als das Éclair schließlich seine Pforten schließen musste, war es vor allem für seine aufwendigen Tortenkreationen bekannt und beliebt.

Gästebuch des Eclair, Unterschrift von Franz Werfel.
Leo Baeck Institut, NYC
Cafe Éclair
Stella Schuhmacher, Landmark West

Antisemitismus und rechte Parteien

Seit Kurzem, angetrieben durch Sorge über das Erstarken rechtsradikaler Parteien und das vermehrte Auftreten antisemitischer Zwischenfälle auf beiden Seiten des Atlantiks, beschäftige ich mich mit den Lebensgeschichten von Holocaustüberlebenden und habe intensive und außerordentlich innige Freundschaften mit meinen Gesprächspartnern geschlossen.

Bewaffnete Polizisten vor dem Jewish Community Center in Manhattan.
Stella Schuhmacher

Über Fanny, ehemalige Franziska, 1924 in Wien geboren, schrieb ich meine erste Geschichte, wobei sie mir bei unserem Gespräch erklärte, dass sie sich nur mit mir unterhalte, weil ich einer Nachkriegsgeneration angehöre. Außerdem sei sie froh darüber, dass mein Mann Amerikaner und nicht Wiener sei, so groß ist ihr Misstrauen gegenüber allem Österreichischen. Obwohl sie in den vergangenen achtzig Jahren kaum Kontakt mit Österreichern hatte, spricht sie akzentfreies, fließendes Deutsch. Uns verbindet mittlerweile eine enge Freundschaft.

Ausweis von Fannys Schwester Klara, die in Auschwitz ermordet wurde.
Stella Schuhmacher

Robert verließ Wien im Dezember 1938 allein als Neunjähriger mit einem Kindertransport nach Großbritannien. Seine Mutter sagte ihm zur Aufmunterung beim Abschied am Wiener Westbahnhof, dass er „eine große Abenteuerreise“ machen werde und sich nicht fürchten müsse. Bis heute kann er nicht darüber reden, ohne dass ihm Tränen in die Augen steigen. Seine Gastfamilie nahm ihn damals wie ein Familienmitglied auf und Robert unterstützt heute Flüchtlingsorganisationen, um sich für die Hilfe, die er selbst erfahren hat, erkenntlich zu zeigen.

Robert mit den Töchtern seiner Gastfamilie in England. Er wurde wie ein Familienmitglied behandelt.
Stella Schuhmacher

Trudy und Arnold sehen sich seit Jahrzehnten wöchentlich bei einem deutschsprachigen Stammtisch für Holocaustüberlebende, der seit 1943 in Manhattan stattfindet. Sie suchen aktiv den Kontakt mit der deutschen Sprache und Kultur, lesen deutsche Bücher und schätzen österreichisches Essen. Trudy beschreibt ihre "ewige Sehnsucht nach der österreichischen Landschaft", die sie bis heute nicht losgelassen hat, und hat vor kurzem das Buch "Tante Jolesch" von Friedrich Torberg gelesen.

Trudy in Schiausrüstung in den österreichischen Alpen.
Stella Schuhmacher

Arnold, dessen Großvater der ebenfalls in die USA ausgewanderte Komponist Arnold Schönberg war, kehrte noch während des Krieges als Soldat in der amerikanischen Armee nach Europa zurück. Beim Rekrutierungsgespräch fragte man ihn, was er machen würde, wenn er an der Front einem Bekannten gegenüberstünde, woraufhin er meinte, dass es auf dessen politische Gesinnung ankäme. Glücklicherweise wurde er nicht mit einer solchen Situation konfrontiert.

Arnold mit Eltern und Bruder in New York während eines Fronturlaubs.
Stella Schuhmacher

Erinnerungen, die Generationen verbinden

Meine Kinder haben diese „wahren Helden“ aus einer anderen Zeit und Welt kennengelernt und wunderbare Freundschaften mit ihnen geschlossen. Meine Tochter unterhält sich mit Fanny bei gemeinsamen Abendessen auf Deutsch über europäische Tischmanieren und koschere Optionen auf der Speisekarte. Mein Sohn bewahrt ein Foto und einen von Fanny gehäkelten Schal neben seinen größten Schätzen in seinem Zimmer auf. Robert treffen wir regelmäßig bei Schulveranstaltungen, da er mit einem Klassenkollegen meiner Tochter verwandt ist. Und Trudy stattete letztes Jahr der Schule meiner Kinder einen Besuch ab und redete mit den sehr interessierten und ergriffenen Schülern über ihr Leben in Wien, die Flucht und ihre Schulerfahrungen als junges Flüchtlingskind im Manhattan des Jahres 1939. Zufällig war sie in dieselbe Schule gegangen, was die Schüler besonders beeindruckte.


Bei ihren Österreich-Besuchen erzählen meine Kinder ihren Freunden von diesen betagten New Yorkern, ihren Lebensgeschichten und den Beziehungen, die sie trotz eines Altersunterschieds von 80 Jahren mit ihnen aufgebaut haben. Ein Heilungsprozess hat begonnen. (Stella Schuhmacher, 5.3.2020)