Flašar: "Spiel mit. Es ist lustig. Man setzt mir einen Binsenhut auf. Viel zu hoch ist er. Viel zu spitz. Man reicht mir eine Schweineblase."

Foto: Helmut Wimmer

Ich tappe im Dunkeln. Ein Kind. Ich werde geformt, geknetet, gemacht. Ich sehe nichts. Ich bin unsichtbar. Man geht über mich hinweg, dann wieder tritt man mir auf den Kopf. Sei leise, heißt es. Und ich halte den Atem an. Sprich deutlich. Und ich presse ein Wort heraus. Kannst du nicht grüßen? Grüß Gott. Nimm die Finger aus dem Mund. Ich stehe gerade. Ein wenig gerader noch.

Meine Knochen sind biegsam. Jemand streichelt mich. So ist es gut. Halt still. Mir ist nach Tanzen zumute. Ich bin ein Kreisel. Ein Windrad. Ein Reifen, der auf den Boden fällt. Einmal gefallen, bleibe ich liegen. Es ist schön hier unten. Der Himmel ist weit. Woraus besteht er? Der Himmel? Frag nicht so viel. Ich muss nicht alles wissen. Nicht alles.

Was bedeutet das? Nichts? Ich bin die Binde vor meinen Augen. Das stechende Licht, sobald sie mir abgenommen wird. Ich verknote mich. So weich bin ich. Noch nicht ausgewachsen. Lernfähig.

Dir gehört die Welt, ruft man mir zu, und ich greife nach ihr. Ein Haufen Exkremente, in dem ich mit einem Stöckchen stochere. Sag mal, graust dir nicht vor dir selbst? Nein, mir graust nicht vor mir. Wenn ich weine, rinnt mir der Rotz in die Kehle. Ich bin eine Heulsuse. Ein Schwächling. Ein Jammerlappen. Schon als ich geboren wurde, habe ich geweint, und nichts hat geholfen, heißt es.

Groß und stark sein

Du bringst mich um meinen Verstand. Ständig willst du etwas. Aber ich will doch bloß da sitzen. Ich sitze in einem Fass und werde herumgerollt. Von draußen kommt lärmendes Rasselgeräusch. Der ist tot, sagt einer. Kurz glaube ich, er meint mich, doch es ist ein Vogel, dem man die Flügel gebrochen hat.

Man nimmt ihn lachend auseinander. Ein kalter Leib, der einmal warm gewesen ist. Das ist der Lauf der Dinge. Komm her. Wie du wieder aussiehst. Ich sag’s dir zum letzten Mal, hörst du? Gewiss.

Irgendwann werde ich groß und stark sein. Ich werde über die höchsten Zäune klettern. Am weitesten werfen. Pinkeln. Eine Fackel tragen. Es gibt nichts, was du nicht erreichen kannst. Mir gehört die Welt, in die ich weinend geboren wurde. Ich stehe gerade. Ich bleibe liegen. Ich verknote mich. Mein Rotz schmeckt süßlich. Noch bin ich am Fertigwerden.

Ein Teig, der aufgeht. Es tut nicht weh. Nicht, wenn du still hältst. Jemand tätschelt mich. Ich werde hochgehoben und wieder abgestellt. Meine Füße sind Stelzen, ich muss erst laufen lernen. Mir scheint, die Welt, die mir gehört, dreht sich im Kreis. Oder bin ich es, der sich dreht? Ich sehe Fetzen fliegen. Eine Maske mit ausgeschnittenen Augen.

Eine Puppe mit Gliedern, die schlaff herunterbaumeln. Warum weinst du? Es macht doch Spaß. Ich weiß keine Antwort darauf und verknote mich wieder. Dir kann man nichts recht machen. Geh weg. Ich bin ein dicker, dicker Knoten, den keiner aufbekommt. Die Beine habe ich ineinandergeschlungen, sie sind aus Wachs, noch warm, sie lassen sich durchbiegen. Den Kopf halte ich geduckt.

Keine Spielwiese

Etwas saust an mir vorbei. Das Geräusch des Windes. Ein Pfiff. Irgendwo ist ein Ball aufgeschlagen, und man rennt ihm kreischend hinterher und rauft sich darum. Das Geräusch von Fäusten. Ein Büschel Haare. Der Wind zerstreut es, schon ist es fort. Das Leben ist keine Spielwiese. Es ist ein Platz, ein großer Platz, auf dem ich ein Loch grabe.

Pass auf! Gib Acht! Du wirst es wohl nie lernen. Ich bin das Loch, das ich gegraben habe. Der Sand unter den Fingernägeln. Noch bin ich das kleinste unter den Sandkörnern, die in das Loch zurückrieseln. Alles muss man mir drei Mal sagen, denn sonst verstehe ich es nicht. Man muss es mich fühlen lassen. Mit einem Peitschenhieb. Anders geht es nicht hinein in mich.

Der tote Vogel – er starrt mich an. Aus seinem aufgerissenen Magen rinnt eine Flüssigkeit. Bald werden die Würmer kommen. Der Lauf der Dinge. So war es. So ist es. So wird es immerzu sein.

Man wird nicht groß ohne Schrammen. Nicht stark, ohne auch mal der Schwächste zu sein. Ich wandere blind über den Platz, der mein Leben ist. Ich balanciere. Ich werde von einer Bank gedrückt. Bunte Bauklötze, die ich aufeinanderstaple. Kaum steht der Turm, ist er in sich zusammengebrochen. Jetzt plärrt er wieder. Der Sturkopf.

Man spricht über mich hinweg, dann wieder schreit man mich an. Du schaffst das. Es klingt wie Trommelwirbel. Ich tanze mit einer Lanze im Bauch. Von meinem Stock flattert ein Band. Jemand kitzelt mich. Nun lach schon.

Ich reite huckepack und weiß nicht, wohin. Lauter Schemen. Bloße Umrisse. Man tritt vor mich hin und entfernt sich wieder. Zärtlichkeiten. Wie vom Wind zerstreute Haarbüschel. Ich suche nach ihnen und finde eine Handvoll Glasmurmeln. Seifenblasen. Ein Netz, darin ein Schmetterling.

Wie ein Laib Brot

Einer sagt: Den frieren wir ein. Und kurz glaube ich, er meint mich. Ich bin ein Angsthase. Ein Feigling. Ein Drückeberger. Reiß dich zusammen. Sei tapfer. Die Welt gehört den Mutigen. Komm, trau dich. Aber ich traue mich nicht. Dieser Platz ist zu groß und der Himmel zu weit. Schön, wenn ich da liege. Noch bin ich am Wachsen. Man formt und man knetet mich.

Ich werde gemacht wie ein Laib Brot, von dem man das Mehl abklopft. Was nicht passt, heißt es, wird angepasst. Ein herausstehender Nagel wird eingehämmert. Spiel mit. Es ist lustig. Man setzt mir einen Binsenhut auf. Viel zu hoch ist er. Viel zu spitz. Man reicht mir eine Schweineblase. Dann wieder reißt man sie mir aus der Hand.

Beim Schwimmen werde ich untergetaucht. Ich zapple im Wasser und schlucke einiges an Schlamm. Ein Stimmengewirr. Ich höre Fetzen fliegen. Die Luft ist rau. Meine Haut ist dünn. Gewiss. Irgendwann werde ich im Gänsemarsch marschieren. Wählen. Eine Staffel entgegennehmen. Wir glauben an dich.

Ich werde ausziehen auf einem Steckenpferd, hü-hott, und einen schon lange verlorenen Kampf ausfechten. Vögel abschießen. Es wird Vögel regnen. Der große Platz wird voller Vögel sein, die vom weiten Himmel fallen werden. Kleb an! Stolzer Schwan. Kleb an! Ich werde mitlaufen und keinen Schmerz mehr empfinden.

Ich bin der Staub, der aufwirbelt

Das Leben ist keine Rutschpartie, heißt es. Aber wieso rutsche ich dann in einem fort, rutsche hinan, rutsche hinauf? Wer taucht die Schaukel an, auf der ich sitze? Ich verknote mich. Schon ahne ich es: Das, was weich ist an mir, wird hart werden. Und was warm ist, kalt. Ich werde erzogen. Gezogen. Mal nach rechts, mal nach links.

Um meinen Hals ist eine Leine gespannt, ich bin das Tier, das dackelnd folgt. Ich bin die Drehspule. Was machst du schon wieder für ein Gesicht? Man hat es nicht leicht mit mir. Ich bin schwierig. Man gibt mir alles, was man zu geben hat, und trotzdem ist es noch nicht genug. Verzogen ist er. Das hat man nun davon.

Man muss mich klein halten, damit ich groß werde. Man muss mich in Grund und Boden stampfen. Ich bin der Staub, der dabei aufwirbelt. Noch bin ich das kleinste unter den Staubkörnern. Einmal gefallen, bleibe ich liegen. Es ist schön hier unten.

Wenn ich bloß immer für immer so daliegen könnte. Mit zugebundenen Augen. Nichts sehen, nichts hören. Keinen Körper haben, der wächst. Jemand pustet mich an. Mich trifft der Strahl einer Wasserpistole. Rotz und Wasser rinnen an mir herunter. Die Würmer sind gekommen. Ich bedecke den toten Vogel mit meinen Händen und kann ihn doch nicht vor seinem Ende bewahren.

Das Fass, in dem ich sitze, rollt unablässig über den lärmenden, kreischenden, lachenden Platz. Noch einmal tanzen! Eine Pirouette drehen! Aber man hat mich an den Füßen gepackt und schleift mich zum Gassenlaufen. Zum Kegeln und Ringen. Die Welt gehört dir, ruft es aus allen Mündern, lange zu! Sei kein Spielverderber.

Im heißen Feuer, für das ich die Zweige gesammelt habe, werde ich fertig gebacken. Sprühende Funken. Das ist das Letzte, was ich bin. Danach weiß ich alles, was ich wissen muss. Ich stehe an einer Tür und singe ein Lied. Die Tür geht auf. Ich gehe hinein. Auf Wiedersehen, Kindheit. Ich habe zu grüßen gelernt. (Milena Michiko Flašar, 1.3.2020)