Ouvertüre auf dem Tisch: Die Nederlumpen nehmen Fahrt auf. Mit "Rockin’ All over the World" geht es auf der Obergurgler Nederhütte los. Dreieinhalb Stunden Party folgen.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

In den Schnapsgläsern stecken kleine rot-weiß-rote Fahnen. Kredenzt werden sie auf Holztabletts, die an Skier erinnern. Dort sitzen die Gläser in Ausbohrungen. Meterweise gelangen sie so an ihre Abnehmer.

Nachdem diese kleinen Gebinde in kleine Leergebinde verwandelt wurden, finden die Fähnchen ihren Weg in die Ritzen der hölzernen Dachträger. Ritzen gibt es viele, Fähnchen ebenfalls, und nicht wenige Gäste haben am Ende eine ziemliche Fahne.

Es ist vier Uhr Nachmittag auf der Nederhütte im Tiroler Obergurgl. Die Hütte liegt auf 2104 Meter Seehöhe, ein paar Minuten oberhalb des Orts an der Abfahrt. Idyllisch wäre wohl das richtige Wort für die Lage. Obwohl das Wetter an dem Tag eher bescheiden ist, ist die Hütte voll.

Gleich geht's los

Rote Wangen, offene Skischuhe, Helme hängen an der Decke, Hunger und Durst. Dazu gesellt sich aufgeregte Spannung, denn gleich geht’s los. Da drüben legt einer schon ein Band-T-Shirt frei: Queen zeigen sich.

Servicepersonal wuselt durch die Tische, auf dem Rücken ihrer schwarzen Seelenwärmer ist das Manifest der Hütte aufgenäht: "We rock you to the limit!" Seit 1988. Deshalb kommt das Publikum hierher zum Après-Ski. Auf der Nederhütte wird gerockt, und zwar von den Nederlumpen. So heißt die Hausband.

Während das Publikum vorglüht, werden die Instrumente gestimmt. Ein dabei angespieltes Riff von Smoke on the Water lässt die Ersten im Publikum johlen. Doch los geht es ein paar Minuten später mit Status Quo: Rockin’ All over the World.

Als Lockerungsübung lässt der Chef der Nederhütte diese Gläser mit Fähnchen servieren. Bei manchen Gästen wächst sich das zu einer ordentlichen Fahne aus,
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Rudi und Benni Gamper stehen auf einem Tisch mitten im Raum und drehen auf. Rudi ist 63 und trägt ein AC/DC-T-Shirt, sein Sohn Benni ist 30 Jahre jünger, trägt Sonnenbrille, Lederhose und Turnschuhe. Progressive Tradition.

Das Publikum geht vom ersten Moment an mit, es braucht keine Animation, bloß ein wenig Stimulanz. Wie günstig, dass gerade ein Brett mit Schnäpsen vorbeikommt. Rudi und Benni arbeiten sich nun rockend und rollend in Richtung Bühne vor, wo der Rest der Band sie empfängt. Dann legen sie mit Hello Josephine nach: Fats Domino in der Skihütte.

Keine Pause, keine schlechten Witze

Die Nederlumpen sind eine fünfköpfige Gruppe. Am Schlagzeug sitzt Sissy Gamper, die Frau von Rudi und Mama vom Benni. Sie hat mit 50 begonnen, Schlagzeug zu spielen. Neben Rudi und Benni stehen der Sänger und Multiinstrumentalist Borut am Keyboard und Sängerin Mely an der Akustischen. Die Nederlumpen erklimmen viermal die Woche die Bühne und spielen jeweils dreieinhalb Stunden durch.

Keine Pause, keine schlechten Witze, einfach nur Rock ’n’ Roll – und ein paar zünftige Landler. Richtige Volksmusik, keine volkstümliche. Darauf legt Sissy wert. Und die geht dem Publikum genauso runter wie der Rest des Programms.

Dreieinhalb Stunden dauert ein Gig der Nederlumpen. Aufgetreten wird vier Mal die Woche.

Bands wie die Nederlumpen gibt es viele – und dann auch wieder nicht. Normalerweise sind solche Gruppen angemietet, die Gampers hingegen sind Gastgeber und Unterhalter in einem, die Nederhütte gehört ihnen, errichtet wurde sie 1988.

Das Immergleiche

Die Après-Ski-Kultur ist seit den 1990ern ein prosperierendes Eventbusiness. Es gibt heute dutzende Bands, die jeden Winter ausrücken, um den Skifahrern auf diversen Hütten die müden Wadl’n noch einmal nach vorn zu richten, bevor es nach dem Einkehrschwung endgültig ins Tal geht. Sie tragen Namen wie Die Granaten, Acoustic Band, Cäpt’n Klug und die Zwergsteirer, sind Duos, Trios, die "urige Musik" und "geile Stimmung" versprechen.

Die meisten dieser Dienstleister nehmen in einer Saison alle Termine wahr, die sie konditionell unterbringen können. Dazu zählen Stadelfeste, Après-Ski-Partys, Faschingsbälle, Almräusche, Night Races – welche Namen auch immer sich originelle Eventmanager für das mehr oder weniger Immergleiche ausdenken.

Haarige Wadeln, raues Leder

Neben diesen Livebands steht eine Legion von DJs mit ihren Laptops bei Fuß. Sie beschallen jenen Teil des Après-Ski, der unter dem aus Mallorca importierten Begriff Ballermann berüchtigt geworden ist. Der einzige Unterschied zu Malle: Der DJ, der sich auf der Baleareninsel polyglott Johnny nennt, verkauft sich hier als DJ Hansi.

Das klingt rustikaler, einheimischer, nach haarigen Waden und rauem Leder. So als würde er drüben im Stall mit der Resi wohnen. Après-Ski verkauft auch die Illusion des Alpenländischen. Verschneite Natur, gute Laune, knackige Jungs, zünftige Mädeln. Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd.

Gebinde werden zu Leergebinde.
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Der durchschnittliche Après-DJ orientiert sich eher in Richtung Techno-Disco, aufgelockert durch Lokalkolorit versprechende Produktionen und Hits, vom Techno-Schlager bis zum volkstümlichen Anbahnungs-Bumm-Bumm. Das ist ein so schlichtes wie gefallsüchtiges Fach, das spätestens mit DJ Ötzi bewiesen hat, dass man auch mit Skihandschuhen und zwei Promille im Blut einen Rhythmus paschen kann.

Sechsstellige Gagen

Mittlerweile gleichen viele solcher Après-Ski-Lokale Clubs in der Stadt. Da gibt es Securitys, einschlägige Probleme mit sich überhebendem Publikum, den Kater am Morgen danach. Wobei der besser ist als ein gebrochener Haxen bei einer übermütigen letzten Abfahrt après Après-Ski.

Große Skiregionen wie Obertauern oder Hauser Kaibling bieten längst schon mehrtägige Festivals. Ein Businesskenner sagt, dass die Gagen der dort auftretenden Gruppen in die Hunderttausende gehen – vor allem wenn angesagte Bands wie Seiler und Speer oder Wanda auftreten.

Für einen Playback-Auftritt eines akuten Stars in einer Hüttendisco werden, ohne zu blinzeln, 8000 bis 10.000 Euro hingelegt: für fünf Minuten stumme Lippengymnastik und ein paar signierte Dekolletés.

"Sweet Caroline ..."

Auf der Nederhütte kennt man das – aber nur aus der Ferne. Okay, für den einen oder anderen Kater sorgt man pro Saison natürlich schon, darauf anlegen tun die Gampers es nicht, sie fühlen sich für das Wohlergehen ihrer Gäste verantwortlich. Auch für deren letzte Abfahrt. Wer nicht mehr kann, den bringt ein Pistenbully runter. Das ist aber schon das Schlimmste, was passiert.

Rudi: "Wir haben in über 30 Jahren nicht eine Schlägerei gehabt. Das typische Ballermann-Publikum kommt eher nicht zu uns. Bei uns sind Familien, in den Ferien haben wir drei Generationen Publikum in der Hütte, denen bieten wir was."

Manche Besucher, sagt Rudi Gamper, hätten Hemmungen, mit den Skischuhen auf die Tische zu steigen und dort zu tanzen. "Aber das passt schon so."
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Ein Paar aus Deutschland bestätigt das. Die beiden kommen seit Jahren hierher, meist mit dem Nachwuchs. Weil der aber gerade nicht konnte, reist man zu Ostern gemeinsam noch einmal an. "Das Après-Ski hier hat familiären Charakter, das gefällt uns."

Dann entschuldigen sie sich. Sie müssen tanzen gehen: Mit den Skischuhen geht’s auf den Tisch. Die Band singt Neil Diamonds Sweet Caroline, die Hütte antwortet vielstimmig mit "Ooh, ooh, ooh!". Ein paar Fähnchen landen in den Ritzen.

30 Lokale in einem

Immer wieder stößt man auf Stammgäste aus Deutschland, Großbritannien oder den Niederlanden. Bei (Is This the Way to) Amarillo von Tony Christie kehrt Pam aus Großbritannien an ihren Tisch zurück, um den Flüssigkeitsverlust von der Tanzfläche wettzumachen. "They are so great", sagt sie schnaufend und deutet mit dem Glas in Richtung Bühne.

Auch sie ist mit ihrem Mann und Freunden schon öfter hier gewesen. Die Nederhütte gehört für sie zum Pflichtprogramm im Urlaub. Wenn sie zu Hause all diese Musik hören möchte, sagt sie, müsste sie an einem Abend in 30 verschiedene Lokale gehen.

Hunger, Durst und Party.
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Die Nederlumpen fallen derweil in den nächsten Gassenhauer. Ansagen gibt’s wenige, Rudi erfreut das Publikum aber manchmal mit einem launigen Tiroler Englisch, das er in einer Geschwindigkeit spricht, wie man sie von texanischen Viehauktionen kennt.

Die Nederlumpen spielen mit Leidenschaft, und die überträgt sich aufs Publikum. Rudi: "Die meisten Gäste haben in ihren Hotels und Pensionen um diese Uhrzeit ein Gratis-Kuchenbuffet, das auf sie wartet. Oder Gratis-Weißwürste, und das haben sie ja alles schon bezahlt. Dann haben sie noch Pools und Saunen, ein Dampfbad – das muss der Gast alles liegen lassen, um bei uns zu bleiben. Und dafür müssen wir was tun."

"... ooh, ooh, ooh!"

Arbeit sei das trotzdem nicht. Musik, sagt Benni, war immer die Leidenschaft des Vaters, die habe er ihm weitergegeben. Sogar ein Hund der Familie heißt Elvis. Begonnen hat Rudi mit einem Zweiten: er mit Gitarre und ein Ziehharmonikaspieler. Von den damals rund 20 Liedern hat er sich nicht nur stilistisch entfernt.

Heute haben die Nederlumpen an die 150 Songs im Repertoire, laufend kommen neue hinzu. Die Feuertaufe ist der Einsatz in der Hütte. Funktioniert ein Song, gut, wenn nicht, fliegt er raus.

Die meisten Besucher schwitzen das Schnapserl auf der Tanzfläche wieder raus.
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Die Speisekarte, sagt Rudi, sei mit dem Tiroler Gröstl und anderen Klassikern zu 85 Prozent noch dieselbe wie vor 30 Jahren. Die Musik aber, die habe sich komplett verändert. Nur wenige Songs wie John Denvers Country Roads oder Proud Mary von CCR spielt Rudi immer noch – aber eben mit einer Rockformation.

Bis zu 750 Gäste

Als musikalische Dienstleister erfüllen die Lumpen immer wieder Wünsche. Nur Schlager geht gar nicht. Also nicht die süßlichen aus dem Erbschleicherradioprogramm. Rudi: "Wir können nicht für alle Leute alles richtig machen." Aber die meisten sind zufrieden.

Bis zu 750 Gäste bewirtet und beschallt man an sonnigen Tagen. Schattige tun der Stimmung keinen Abbruch. Die Hütte brodelt, die Stimmung ist großfamiliär, die Sektkübel sind mit frischem Schnee gefüllt.

Nie fad

Nach drei Stunden lichten sich die Reihen langsam, eine halbe Stunde später sind die letzten Gäste aus der Tür. Gut hundert Gigs spielen die Nederlumpen pro Saison, fad wird ihnen dabei nie. Sissy: "Es ist ja jeden Tag ein anderes Publikum da, und es ist nie dasselbe Programm."

Draußen ist es mittlerweile finster. Unten sieht man die Lichter des Orts. Auf dem Pistenbully sitzt der euphorisierte Boris aus England. Auch er ist ein Stammgast – und selbsternannter AC/DC-Experte. Keine andere Band, sagt er, komme dem Original so nahe wie die Nederlumpen. Darum ist er morgen wieder dabei. (Karl Fluch, 29.2.2020)