Regisseurin Josephine Decker kehrt im Film "Shirley" die Perspektiven der Frauen entschieden gegen jenes Milieu, das sie auf verrückte Schriftstellerin und brave Hausfrau reduziert: Shirley Jackson (Elisabeth Moss, li.) und ihre Untermieterin Rose (Odessa Young).

Foto: LAMF Shirley Inc.

1. Geschärftes Profil

Um persönliche Handschriften, um neue Spielarten des Kinos sollte es wieder verstärkt gehen, lautete das Vorhaben der neuen Direktion unter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek. Nach zehn Tagen lässt sich sagen: Der Kurswechsel ist geglückt. Mit einem gestärkten Wettbewerb und der neuen Sektion Encounters gewann das Festival in seiner 70. Ausgabe deutlich an Profil hinzu. Es ist schön und richtig, arrivierte Filmemacher wie Philippe Garrel, Kelly Reichardt oder Abel Ferrara zentral zu platzieren. Garrels zwischen Satire und Pathos wechselndes Untreuedrama und Ferraras Sibiria, ein dantesker Wahntrip, in dem Willem Dafoe in Traumwelten abstieg, bereicherten den Wettbewerb auf jeden Fall durch Eigensinn.

Wichtig ist die Heterogenität des Gezeigten: Sie bildet eine Produktionslandschaft ab, die im Umbruch ist und neue Allianzen sucht. Über das gängige Format Arthouse-Film ging manch eine Arbeit schon hinaus: Die meditative Einsamkeitsstudie Days von Tsai Ming-Liang, die in einer schwulen Sexmassage kulminiert, erforscht ein anderes Erzählen mit digitalen Bildern. DAU: Natasha von Ilya Khrzhanovsiy und Jekaterina Oertel ist einer der Filme, die aus dem gleichnamigen megalomanischen Theaterprojekt hervorgingen, mit dem das Sowjet-Leben rekonstruiert werden sollte.

The Upcoming

Der Film sorgte schon im Vorfeld aufgrund dubioser Produktionsmittel und Missbrauchsvorwürfe gegenüber dem Regisseur für Diskussionen. Als zweieinhalbstündiger Film bleibt das Ausnahmeprojekt allerdings schwer vermittelbar. Die Geschichte der in der Kantine eines wissenschaftlichen Instituts vor sich hin leidenden Natasha mäandert durch Wodkaexzesse und realen Sex und mündet in die sadistische Bestrafung durch einen KGB-Offizier. Als Analyse eines repressiven Systems wirkt das etwas zu plump. Khrzhanovsiys Vorhaben, richtigem Leben mit den Mitteln der Kunst neu zu begegnen, erscheint am Ende doch eher als die Irrfahrt eines Regisseurs, der mit dokumentarischer Kamera Effekte einfordert.

2. Fokus auf Frauenwelten

Fragwürdige Geschlechterpolitik war nicht nur im skandalisierten DAU ein Thema, sondern hatte die Berlinale schon vorab in Form von älteren Interviewpassagen von Jury-Präsident Jeremy Irons beschäftigt. Erfreulicherweise gab es dann genug Filme zu sehen, die von einer neuen Sensibilität der Darstellung zeugten. Zu den stärksten Arbeiten gehörten solche, die in weibliche Lebenswelten richtiggehend eintauchten. Eliza Hittmans Never Rarely Sometimes Always, einer der Favoriten für einen der Preise am Samstagabend, erzählt zurückgenommen von den Strapazen der 17-jährigen Autumn (Sidney Flanigan), die nach New York aufbricht, um eine Abtreibung vorzunehmen.

Focus Features

Stilistisch völlig konträr, aber ähnlich entschieden blickt ihre Regiekollegin Josephine Decker in Shirley auf die privaten Eskapaden der Schriftstellerin Shirley Jackson (Elisabeth Moss). Zuerst wirkt sie mit ihren wirren Haaren wie ein giftsprühendes Wrack, im Beisein der jungen Rose (Odessa Young), ihrer Untermieterin, erwachen dann ihre Lebensgeister neu. Deckers Film ist keine Sekunde lang erbaulich, sondern fiebrig, wild und mehrdeutig. Sie umgarnt die Perspektive der Frauen, um diese dann entschlossen gegen ein Milieu zu kehren, das diese auf die Rolle der braven Hausfrau oder verrückten Autorin reduziert.

Um die Befreiung des weiblichen Blicks geht es auch Constanze Ruhm, deren Essayfilm Gli appunti di Anna Azzori im Forum gezeigt werden. Die Wiener Künstlerin kehrt zu Anna von Alberto Grifi und Massiemo Sarchielli von 1972 zurück, einem Dokumentarfilm über eine junge drogenabhängige Frau, und reklamiert die Figur nun für sich. Sie spinnt Annas Leben weiter, indem sie für die Rolle der Anna Frauen castet. So wird eine Frau, die im Schatten eines Filmes lebt, zur Figur eines "fröhlichen" Feminismus. Aus Ruhms Remake sprießt der Keim für Utopien aufs Neue.

3. Politik im Kleinen

Politik, das alte Steckenpferd der Berlinale, wurde nicht mehr so groß geschrieben wie früher. Kelly Reichardt erzählt in ihrem Western First Cow verschmitzt vom frühkapitalistischen Konkurrenzkampf. Christian Petzolds Undine tritt mit einer mythischen Liebesgeschichte gegen eine vom Konsumerismus entzauberte Welt an.

In seiner Deutlichkeit eine Ausnahme war There is No Evil von Mohammed Rasoulof, der ganz am Ende des Festivals lief. Rasoulof darf aus dem Iran nicht ausreisen, geschweige denn dort filmen. Seine Arbeit wurde mit ausländischen Geldern koproduziert und im Untergrund realisiert. Erzählt werden vier melodramatische Episoden um Männer, die mit der Exekution der Todesstrafe in Verbindung stehen und sich dieser Pflicht als Soldat entweder entziehen oder nicht — die Konsequenzen sind gravierend.

Wie von einem anderen Stern auf die Gegenwart blickt Cristi Puius Malmkrog, einer der umwerfendsten Filme in Berlin. In dreieinhalb Stunden folgt man einer aristokratischen Runde in einem luxuriösen russischen Landhaus um 1900 durch fein gedrechselte Konversationen, die auf Texten des russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjow beruhen. Das Geniale daran ist, wie Puiu ihre Wortgewandtheit zelebriert und gleichzeitig vorführt, dass sie für den geschichtlichen Lauf der Welt längst blind geworden sind. Das Ende einer Elite, wenn man so will. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, 28.2.2020)