Die jüngsten herben Verluste für die türkische Armee in der nordsyrischen Rebellenprovinz Idlib wirken wie ein letztes Alarmzeichen dafür, dass der syrische Machthaber Baschar al-Assad und sein Verbündeter – der russische Präsident Wladimir Putin – es ernst meinen und ihre militärische Offensive bis zum bitteren Ende fortsetzen wollen. Auf drei Millionen Zivilisten, aber auch mindestens 50.000 islamistische Kämpfer wartet dann entweder eine zwangsweise Eingliederung in das "neue Syrien" unter Kriegsgewinner Assad, das Gefängnis, der Tod – oder eben die Flucht in die angrenzende Türkei.

Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan könnte damit die persönliche politische Existenz auf dem Spiel stehen. Denn niemand in der Türkei will neben den bereits fast vier Millionen Flüchtlingen im Land noch weitere hunderttausende Syrer aufnehmen. Das gilt ganz besonders in Zeiten einer Wirtschaftskrise, wie die Türkei sie derzeit durchmacht.

Flüchtlinge in der Türkei auf dem Weg zur griechischen Grenze.
Foto: EPA/ERDEM SAHIN

Es ist deshalb eine Illusion, wenn man in Europa glaubt, mit ein paar Millionen Euro mehr für Erdogan könne man sich die Tragödie von Idlib und die daraus resultierenden Flüchtlinge vom Hals schaffen. Es wird immer davon gesprochen, Erdogan drohe mit einer neuen Flüchtlingswelle, ja er erpresse damit Europa. Es stimmt schon: Der türkische Staatspräsident erachtet die Flüchtlinge aus Syrien auch als mögliches Druckmittel. Doch die Probleme in der Türkei sind durchaus real.

Allein in der türkischen Metropole Istanbul mit ihren mehr als 15 Millionen Einwohnern leben rund eine Million syrische Flüchtlinge – also so viele, wie ganz Deutschland im Krisenjahr 2015 aufgenommen hat. Und in der grenznahen Stadt Gaziantep kommen auf rund eineinhalb Millionen Einwohner noch einmal 500.000 Flüchtlinge.

Wenn also Europa nicht mehr reale Anstrengungen unternimmt, damit die Flüchtlinge von Idlib eine sichere Bleibe finden können, dann wird es letztlich einen guten Teil davon bei sich selbst aufnehmen müssen.

Putin hat Erdogan gezeigt, dass er bisher nicht gewillt ist, einem Waffenstillstand für Idlib zuzustimmen. Wenn die Türkei die Lage nicht allein meistern kann, müssen also Europäer und Amerikaner mehr tun. Es wird Zeit, den Druck auf Putin spürbar zu verstärken. Nicht unbedingt militärisch, es geht auch ökonomisch: Sanktionen bei der Gaspipeline Nord Stream könnten ein erster Schritt sein. (Jürgen Gottschlich, 28.2.2020)