Claudine Emonet hat sich befreit. "Ich habe diese Last vierzig Jahre herumgetragen", sagt die 58-jährige Französin. Sie spricht von sexuellem Missbrauch durch einen Trainer. Emonet fuhr bis 1990 im Skiweltcup, ihre beste Platzierung war ein zweiter Rang in der Abfahrt von San Sicario 1982. Die nun publik gewordenen Ereignisse haben sich rund um 1980 zugetragen. "Ich war gerade erst volljährig, andere Opfer waren es nicht", sagt die ehemalige Rennläuferin, die ihr Gesicht lieber nicht in der Zeitung sehen will, zum STANDARD. "Er benahm sich wie ein Guru, der seine Macht missbrauchte, uns bedrohte und misshandelte." Der Täter hätte sich immer derselben Methoden bedient, er fädelte gemeinsame Autofahrten ein. So habe es immer angefangen.

"Ich war 16"

Eines der angesprochenen minderjährigen Opfer war Catherine Gonseth. Die Französin galt als vielversprechende Rennläuferin, ehe sie sich 1980 im Alter von 19 Jahren zurückzog. Damals blieb ihre Entscheidung unverständlich, heute ist der Rücktritt nachvollziehbar. "Ich war 16, ich war wahrscheinlich eines seiner ersten Opfer, vielleicht das erste", sagte die heute 60-Jährige der Tageszeitung Le Parisien. Die Taten ihres Trainers habe sie lange Zeit verdrängt, nicht wahrhaben wollen: "Beim ersten Mal dachte ich, es wäre ein Traum oder eher ein Albtraum. Ich stand völlig unter Schock, ich log mich selbst an."

Der Fall erinnert an die Causa Nicola Werdenigg. Die Vierte der Olympia-Abfahrt von 1976 thematisierte 2018 im STANDARD Übergriffe von Trainern, Betreuern und Kollegen. Ihre Schilderung löste in Österreich eine Welle der Empörung aus – und rief zugleich Unverständnis hervor. Warum erst jetzt? Warum nennt sie keine Namen? Und was soll das Theater überhaupt bringen? Emonet sieht sich nun in Frankreich den gleichen Fragen ausgesetzt, die Foren diverser Nachrichtenportale sprechen Bände. Es gibt Kritiker, Zweifler, Nörgler. Doch die Französin war nicht unvorbereitet.

"Wir müssen handeln, wir schulden es dir"

Als Emonet am 14. Februar ihre Leidensgeschichte über Facebook veröffentlichte, hatte sie alle Antworten bereits gegeben: "Ich habe oft daran gedacht, darüber zu sprechen, aber die Gefühle von Scham und Schuld sind kaum zu überwinden. Also leben wir damit, versuchen, diese abscheulichen Erinnerungen zu begraben. Ich würde den Namen des Täters gerne hinausschreien, aber das Gesetz rät mir davon ab. Ich möchte mit meiner Erzählung anderen Opfern Mut machen, sie sollen sich nicht alleingelassen fühlen. Sie sollen wagen, zu sprechen. Sie sollen sagen können, was mit ihnen passiert ist. Ich möchte, dass die Welt des Skifahrens aufwacht!"

Zumindest in Frankreich scheint der Skisport lernfähig zu sein. Als sich Emonet vor zehn Jahren dem technischen Direktor der Alpinen anvertraut hatte, war das Interesse überschaubar. Nun aber haben sich ehemalige Teamkolleginnen gemeldet, auch von Männern kam Unterstützung – namhafte noch dazu. Der 76-jährige Jean-Claude Killy, die französische Skilegende schlechthin, schrieb Emonet eine persönliche Nachricht. Und Franck Piccard, Super-G-Olympiasieger 1988, verfasste über Facebook einen offenen Brief: "Du sollst nun, da du es gewagt hast, die Omertà zu brechen, von aufrichtigen Freunden umgeben sein. Wir sollten nicht schweigen. Das Schlimmste wäre zu denken, dass es Schlimmeres gibt. Wir müssen handeln, wir schulden es dir."

Olympiasieger Franck Piccard meldet sich zu Wort: "Das Schlimmste wäre zu denken, dass es Schlimmeres gibt."

Als Werdenigg in Österreich an die Öffentlichkeit ging, wandte sich der Skisport weitgehend von ihr ab. Nur ihre ehemalige Teamkollegin Ingrid Gutzwiller-Gfölner, die ebenfalls über Erfahrungen mit Missbrauch sprach, stärkte der Abfahrtsmeisterin von 1975 den Rücken. Empathie? Solidarität? Unterstützung? Ganz im Gegenteil: ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel zog zunächst ein juristisches Nachspiel in Betracht, Jahrhundertsportlerin Annemarie Moser-Pröll ("Es gehören immer zwei dazu") stellte sich gegen ihre ehemalige Teamkollegin, und die Kronen Zeitung, einer der Hauptsponsoren des Skiverbands, stellte Werdeniggs Glaubwürdigkeit ("Haben Sie gelogen?") infrage.

Emonet hat die Vorfälle in Österreich aufgearbeitet – und kann es kaum fassen: "Was Nicola Werdenigg passiert ist, ist fürchterlich. Dass Kolleginnen sich gegen sie gestellt haben, ist fürchterlich. Dass man sie der Lüge bezichtigt hat, ist fürchterlich. Warum sollte man sich freiwillig so einer Situation aussetzen? Glaubt man etwa, dass das Spaß macht? Wir haben Besseres zu tun, als vierzig Jahre alte Geschichten zu erfinden." Die träge Reaktion des ÖSV ist für Emonet unbegreiflich: "Wenn man sich sofort auf die Seite der Opfer gestellt hätte, hätte man daran wachsen können."

"Der Verband möchte den Mut würdigen"

Der französische Skiverband (FFS) verhält sich da professioneller. Am 16. Februar tauchten die Anschuldigungen erstmals in der Presse auf, einen Tag später veröffentlichte der Verband eine Mitteilung: "Der Verband möchte den Mut würdigen, den es gebraucht hat, um diese erbärmlichen Verhaltensweisen hervorzuheben, und sichert den Läuferinnen all seine Unterstützung zu." Zudem ermutigte der FFS weitere Opfer, ihre Stimme zu erheben. Verbandspräsident Michel Vion, 1982 in Schladming Weltmeister der alpinen Kombination, gab sich bedrückt: "Ich kann mir diese Last vorstellen. Wir werden uns nicht hinter der Verjährung verstecken."

Nicht nur in Österreich wurden Betroffene anders behandelt. In Kanada warfen die ehemaligen Rennläuferinnen Genevieve Simard, Gail Kelly und Anna Prchal dem Verband vor, die Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Minderjährige vertuscht zu haben. Die drei Sportlerinnen widersprachen 2018 einem Statement des Verbands, mit ihnen in konstruktiven Gesprächen zu sein. Jede der drei forderte rund 300.000 Euro für den erlittenen psychischen und physischen Missbrauch. Mittlerweile hat man sich außergerichtlich geeinigt, der Trainer wurde in erster Instanz zu zwölf Jahren Haft verurteilt, die Strafe später um 21 Monate reduziert.

Die Kanadierin Genevieve Simard über den Moment, als sie beschloss zur Polizei zu gehen.

Dass Claudine Emonet und Catherine Gonseth nun an die Öffentlichkeit gegangen sind, hat aber weder mit Österreich noch mit Kanada zu tun. Vielmehr wurden die beiden Frauen durch den Fall Sarah Abitbol ermutigt. Die ehemalige französische Eiskunstläuferin, 2000 WM-Dritte im Paarlauf, erhob im Jänner dieses Jahres schwere Vorwürfe gegen einen ehemaligen Trainer.

"Unser System hat auf allen Ebenen versagt"

Sie sei als 15-Jährige mehrfach vergewaltigt worden. Ihre Aussagen lösten ein Beben aus, im Zuge dessen Missbrauchsvorwürfe von anderen Eiskunstläuferinnen bekannt wurden. Auch Fälle aus anderen Sportarten wie Schwimmen drangen an die Öffentlichkeit. Sportministerin Roxana Maracineanu forderte von den Verbänden "ein echtes Engagement und einen Mentalitätswandel. Unser System hat auf allen Ebenen versagt. Wir dürfen jetzt nicht warten, wir müssen schnell handeln."

Der Skisport hat in Frankreich nicht denselben Stellenwert wie in Österreich. Emonet und Gonseth sind nicht das Thema Nummer eins. Trotzdem haben sie den Gang an die Öffentlichkeit nicht bereut. "Wir wollten etwas bewegen", sagt Emonet. "Es passiert überall. Das muss aufhören. Die Täter werden geschützt, sie werden durch die Stille geschützt. Und es wird weitergehen, wenn wir nicht darüber reden." (Philip Bauer, 29.2.2020)