Migranten an der griechisch-türkischen Grenze.

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Eine Bestätigung über das Eintreffen größerer Zahlen von Migranten hat es aus Griechenland und Bulgarien im späten Samstagabend nicht gegeben. Am Abend hatte der türkische Innenminister Süleyman Soylu via Twitter verkündet, dass bis um 21 Uhr Ortszeit 36.776 Migranten über die Provinz Edirne die Grenze Richtung EU überquert hätten.

Noch bevor die Türkei den Übertritt von mehr als 35.000 Migranten meldete, hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) auf eine Drohung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan reagiert. Dieser hatte erklärt, dass die Türkei keine Flüchtlinge mehr von ihrem Weg nach Europa abhalte und betont, man habe die Grenze für Migranten geöffnet. Seit Freitag machten sich zahlreiche Flüchtlinge in der Türkei auf den Weg zur Grenze und versuchten, in die EU zu gelangen.

Kurz will Grenzen schützen

"Eine Situation wie 2015 darf sich keinesfalls wiederholen", erklärte Kurz am Samstag in einer Aussendung. "Unser Ziel muss es sein, die EU-Außengrenzen ordentlich zu schützen, illegale Migranten dort zu stoppen und nicht weiterzuwinken."

Österreich stehe "in laufendem Kontakt mit unseren Partnern in der EU und entlang der Westbalkanroute", sagte Kurz. Man sei bereit, die Länder an der Außengrenze mit zusätzlichen Polizisten zu unterstützen – das hatte auch schon Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Freitag erklärt. Allerdings, so Kurz: "Wenn der Schutz der EU-Außengrenzen nicht gelingen sollte, dann wird Österreich seine Grenzen schützen."

Schallenberg traf Botschafter

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hatte bereits am Freitag den türkischen Botschafter Ozan Ceyhun zu einem Gespräch getroffen, das bestätigte das Außenamt am Samstag gegenüber der APA. "Es ist essenziell, dass die Türkei ihren Teil des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens einhält", schrieb Schallenberg auf Twitter.

Der Außenminister telefonierte auch mit seinen Amtskollegen aus Griechenland und Bulgarien, Nikos Dendias und Ekaterina Sachariewa. "Die EU muss in dieser Sache schließlich eng abgestimmt vorgehen", hieß es aus dem Außenministerium. Besonders in Griechenland sei die Situation laut Dendias sehr angespannt, weswegen die Minister vereinbart haben, in engem Kontakt zu bleiben. "Klar ist auch, dass man die Griechen in dieser Situation nicht alleine lassen würde."

FPÖ will Militäreinsatz

FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl erklärte in einer Aussendung am Samstag, er erwarte sich, dass "nun auch Griechenland seine militärische Stärke zum Einsatz bringt, um dieser Lage Herr zu werden". Die Bewältigung "dieses Migrantenstroms" sei keine Aufgabe, die die Polizei alleine in Angriff nehmen könne. Seitens der EU müsse "rasch ein klares Bekenntnis für einen derartigen Militäreinsatz kommen", schließlich handle es sich "in gewisser Weise schon von einem Angriff", sagte Kickl.

Der blaue Vizebürgermeister Wiens, Dominik Nepp, erklärte: "Die Mär von Kurz, die Balkanroute sei geschlossen, ist damit endgültig vom Tisch." Die schwarz-grüne Regierung sei "in keiner Weise auf einen Massenansturm vorbereitet", befürchtet der geschäftsführende FPÖ-Wien-Chef. Sein Vorgänger Ex-FPÖ-Chef im Bund und Wien, Heinz-Christian Strache (DAÖ), verlangte auf Facebook den Schutz der österreichischen Grenzen.

Humanitäre Hilfe

"Erdogan will die EU und die NATO erpressen, damit diese seine Verbündeten in Syrien militärisch unterstützen. Das sind radikale islamistische Verbände, die schwere Menschenrechtsvergehen begangen haben. Diese Unterstützung ist ausgeschlossen", erklärte der Europasprecher der Grünen im Nationalrat, Michel Reimon. "Europa darf Erdogans Erpressung nicht nachgeben." Dass Erdogan die Flüchtlinge an der griechisch-türkischen Grenze nun gegen jene an der syrischen Grenze ausspiele, sei "doppelt schändlich". Österreich solle "sofort humanitäre Hilfe leisten". Reimon kündigte an, sich die Situation in den kommenden Tagen Vorort anzusehen.

Neos-EU-Abgeordnete Claudia Gamon mahnte "ein geeintes, souveränes Auftreten" der EU ein: "Wir erkennen, dass Deals mit umstrittenen Machthabern wie Erdogan keine tragfähigen Lösungen sind, wenn dieser den Abmachungen zuwiderhandelt." Es sei nun oberste Priorität, Verantwortung für die europäischen Grenzen und die humanitäre Lage in der Region zu übernehmen, sagte Gamon und forderte einen umfassenden Aktionsplan für die Sicherheit von Kriegsflüchtlingen und die Handlungsfähigkeit Europas: "Daher sind Maßnahmen für funktionierende und souveräne Außengrenzkontrollen aus eigener Kraft und mit eigenen europäischen Einheiten notwendig."

Erdogan will Türen offen halten

Erdogan sieht Schuld an der zugespitzten Situation hingegen bei der EU. "Wir werden die Türen in nächster Zeit nicht schließen", sagte Erdogan bei einem Auftritt in Istanbul. "Die Europäische Union muss ihre Zusagen einhalten. Es ist nicht unsere Aufgabe, uns um so viele Flüchtlinge zu kümmern, sie zu versorgen." Der Präsident ergänzte, die EU-Gelder für die Türkei zur Unterstützung der Flüchtlinge kämen zu langsam an. Er habe die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel darum gebeten, dass die Mittel direkt an die türkische Regierung übermittelt werden.

Erdogan hatte 2016 mit der EU vereinbart, Migranten verstärkt davon abzuhalten, nach Europa zu kommen, doch inzwischen wächst der Druck, analysiert ORF-Korrespondent Jörg Winter in Istanbul.
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Im Auswärtigen Amt in Berlin hieß es, Deutschland gehe davon aus und erwarte, dass das EU-Türkei-Abkommen eingehalten wird. Sie steht dazu mit allen Beteiligten im Kontakt.

Polizei mit Tränengas

In der griechischen Grenzstadt Kastanies ging Bereitschaftspolizei am Samstag mit Tränengas gegen Migranten vor, die aus der Türkei ins Land gelangen wollten. "Es wurden mehr als 4.000 illegale Grenzüberschreitungen abgewendet", berichtete Regierungssprecher Stelios Petsas am Samstag im griechischen Staatsfernsehen ERT. Ähnlich hat sich auch Bulgarien positioniert. Ministerpräsident Boiko Borissow sagte, bisher gebe es zwar keinen Migrationsdruck an der Grenze zur Türkei. "An unserer Grenze (zur Türkei) gibt es null Migration", so Borissow. Nun müsse aber schnell gehandelt werden. Spätestens bis Donnerstag müsse die Türkei mit den notwendigen Mitteln versorgt werden, damit sie die Migranten zurücknehmen und sich um diese kümmern könne. Er werde Erdogan am Montag treffen.

Der griechische Außenminister Nikos Dendias beantragte eine Sondersitzung der EU-Außenminister. Diese wollten am Donnerstag bei einem schon zuvor angesetzten informellen Treffen in der kroatischen Hauptstadt Zagreb darüber beraten, hieß es aus EU-Kreisen. Außenminister Schallenberg wird daran teilnehmen.

Fast eine Million kamen 2015 über türkische Grenze

Auf den Höhepunkt der Flüchtlingskrise waren 2015 fast eine Million Flüchtlinge und Migranten von der Türkei aus auf die griechischen Inseln gelangt. Damals schloss die EU mit der Türkei ein Abkommen, um den Zustrom nach Europa einzudämmen. In den vergangenen Jahren nahm die Türkei 3,7 Millionen Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg auf und hinderte sie gemäß dem Flüchtlingsdeal an der Weiterreise. Dies hat sich aber offenbar geändert.

Die von Russland unterstützte Militäroffensive der syrischen Regierung gegen Rebellen im Nordwesten des Landes hat dazu geführt, dass seit Dezember etwa eine Million Zivilisten vertrieben wurden. Es handelt sich vermutlich um die schwerste humanitäre Krise seit Ausbruch des Bürgerkriegs. (APA, red, 29.2.2020)