Einen César für den "besten Vergewaltiger 2020" fordern Protestierende zynisch für Roman Polanski.

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Es war kurz nach Mitternacht, als sich die gewaltige Spannung eines ganzen Abends, ja des ganzen Frühjahrs, mit einem einzigen Schrei löste. Hunderte von Feministinnen hatten zuvor vor dem Pariser Pleyel-Saal gegen die elf Nominierungen des Polanski-Films Intrige (auf Französisch J’accuse) de monstriert. Sie zündeten Leuchtraketen, versuchten, den roten Teppich loszureißen, auf dem die Galagäste zur César -Verleihung eintrafen, und schwenkten Pla kate mit der Aufschrift: "Vergewaltiger und Pädokriminelle zu schützen ist ein Akt widerlicher Komplizenschaft."

Der "Pate" muss gehen

Seit Wochen hatte sich die Lage in der französischen Kinobranche zugespitzt. Jüngere Filmschaffende warfen den César-Verantwortlichen vor, sie schützten Polanski gegen die Vergewaltigungsvorwürfe mehrerer Frauen und förderten seinen neuen Streifen. Mitte Februar führte ein offener Brief von 400 Filmschaffenden zum Umsturz: Der mächtigste Mann des französischen Films, Alain Terzian, ein 70-jähriger armenischstämmiger Lobbyist alter Schule, von Le Monde als "Pate" betitelt, musste mit dem ganzen Verwaltungsrat der César-Akademie den Hut nehmen.

Am Freitagabend zog Terzian hinter den Kulissen der César -Zeremonie noch einmal die Fäden. Polanski (86) hatte am Vortag bekanntgegeben, darauf zu verzichten, an dem Galaabend zu erscheinen, um nach eigener Darstellung einem "selbsternannten Meinungstribunal" und einer "öffentlichen Lynchjustiz" zu entgehen. Bei der mehrstündigen Preisverleihung ersetzte Zeremonienmeisterin Florence Foresti den Namen Polanski durch ein vorsätzliches Niesen, wenn sie den polnisch-französischen Regisseur erwähnen musste; der Schauspieler Jean-Pierre Darroussin murmelte seinen Namen unverständlich.

Regiepreis an Polanski

Zwei kleinere Auszeichnungen hatte Intrige schon erhalten, als die zurückgehaltenen Leidenschaften offen ausbrachen. Um 0.15 Uhr ging der Regiepreis zur allgemeinen Überraschung an Polanski. Ebenso groß war die Empörung. Die Auszeichnung für den besten Film wäre noch einigermaßen vertretbar gewesen, ist doch Intrige über die Dreyfus -Affäre zweifellos ein starker Film.

Entsprechend vertrat Terzian seit Monaten die Meinung, dass man ein Werk ehren könne, ohne sich zur Person des Machers zu äußern.

Dass Polanski ausgerechnet den personenbezogenen Preis der besten Regieführung erhielt, war zu viel. Durch den Saal ging ein einzelner Schrei: "Schande", rief Adèle Haenel, eine in Frankreich sehr bekannte Schauspielerin und selbst Vergewaltigungsopfer. Die junge Frau erhob sich und verließ zusammen mit anderen Gästen den Pleyel-Saal.

"Letztes Ehrengefecht"

"Schande", hieß es darauf auch in zahllosen Variationen auf Twitter; Foresti tippte ins Telefon, sie sei "angeekelt", und kam nicht mehr auf die Bühne. Sogar Kulturminister Franck Riester sprach von einem "schlechten Symbol" und bezeichnete den Regiepreis als problematisch, weil er "nicht nur das Werk, sondern auch den Mann" feiere.

Zurück bleibt der Eindruck, dass die umstrittene Preisverleihung ein "letztes Ehrengefecht" (so das Magazin Causeur) des Terzian-Clans war. Sein kollektiver Rücktritt macht in Paris den Weg frei für eine neue Generation von Filmemachern. "Revolutionen werden immer von großen Hoffnungen getragen", meinte die Schauspielerin Sandrine Kiberlain nach dem chaotischsten der seit 1976 existierenden César-Abende.

Mehr Vielfalt gefordert

Die jüngeren Filmschaffenden verlangen nicht nur mehr Frauensicht, sondern auch mehr ethnische Vielfalt. Zum Ausdruck kam dies bereits beim César für den besten Film, der an das Banlieue-Polizeidrama Les Misérables (Die Wütenden) von Ladj Ly ging. Der César für den besten Erstfilm ging an Papicha von Mounia Meddour, und als bester Schauspieler wurde Roschdy Zem geehrt, der für sich allein den Maghreb-Faktor des französischen Kinos verkörpert und den Preis seit Jahren verdient hatte.

Ein Nichtfranzose sagte seine Anwesenheit am Pariser César-Abend im letzten Moment ab: Brad Pitt, der für einen Ehren-César vorgesehen war, hielt wohl lieber Distanz zu den hochwogenden Pariser Leidenschaften. (Stefan Brändle aus Paris, 1.3.20)