Im Vorjahr brachte Handelsverband-Chef Rainer Will eine Beschwerde gegen Amazon bei der Wettbewerbsbehörde rund um die Geschäftsbedingungen des Onlineriesen ein. Vor kurzem hat er ein Buch über die Folgen der Digitalisierung geschrieben. Will warnt vor Monopolen und fordert mehr staatliche Regulative für den Internethandel ein. Auf Konsumenten kämen höhere Preise und mindere Qualität zu.

STANDARD: Sie waren einst ein Jahr lang auf Weltreise, sind mit dem Rucksack durch 19 Länder getrampt, von Afrika bis nach Australien. Würden Sie es sich heute noch trauen, ohne Handy zu reisen?

Will: Zutrauen ja. Um alles hinter sich zu lassen, ist das sicher eine gute Therapie. Noch einmal auf Weltreise gehen würde ich aber nur bei gravierenden privaten und beruflichen Veränderungen.

Amazon schöpft einen Großteil des Onlinehandels ab. Für 12.000 kleine österreichische Webshops bleibt wenig übrig. Händler vermissen strengere Marktregulierungen.
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STANDARD: Sie beschäftigen sich stark mit dem digitalen Menschen. Warum halten Sie eine zweite Identität im Netz für so gefährlich?

Will: Für riskant halte ich es, wenn man sich seines digitalen Zwillings nicht bewusst ist. Es muss uns klar sein, dass dieser niemals uns gehört, sondern digitalen Giganten. Studien belegen: Gibt man bei Facebook 30 Likes ab, kennt einen das System besser als der beste Freund. Bei mehr als 100 Angaben weiß das System mehr über einen als man selbst. Und diese Daten werden natürlich gezielt genutzt, etwa für Werbung.

STANDARD: Die digitale Reise wird Ihnen zufolge immer schneller und lenkt zusehends von der Realität ab. Wie real sind wir denn noch?

Will: Nietzsche zufolge ist jeder, der am Tag nicht zwei Drittel für sich als Freizeit verbuchen kann, ein Sklave. Nach diesem Motto wären wir alle Sklaven. Die Frage ist, wie viel unserer Freizeit wir in digitalen Kanälen verbringen. Wir nutzen ja das Arbeitsgerät Handy auch als Entspannungsgerät.

STANDARD: Im Sinne Nietzsches wären wir also digitale Sklaven?

Will: Wir leben derzeit in der digitalen Steinzeit. Große Monopole sind entstanden. Die Regulierungen konnten kein Fairplay sicherstellen. Unsere Kinder werden uns bestimmt einmal fragen, warum wir das nicht wahrgenommen haben, warum die Politik zugesehen hat. 170 Milliarden Euro entgehen Europa im Jahr durch diverse Steuerkonstruktionen. Das sind keine Peanuts. Aber Menschen werden durch intuitive Verhaltensmuster instrumentalisiert, um in dieses System weiter einzuzahlen.

STANDARD: Wie das?

Will: Die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen liegt mittlerweile unter der eines Goldfisches. Diese dauert laut Gehirnforschung beim Fisch neun Sekunden, bei Menschen waren es vor zwei Jahren nur noch 8,25. Vor allem die jüngere Generation bricht spätestens nach zwei Sekunden ab. Und das auch, wenn die Videos spannend sind. Diese Kurzweiligkeit wird ausgenutzt, um immer wieder Inhalte wie Werbung zu platzieren. Dazu kommt, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Die Nutzerfreundlichkeit geht so weit, dass sich Menschen mittlerweile Sensoren unter die Haut implantieren lassen, damit sich ihre Garage automatisch öffnet. Ich setze mich für Gesetze ein, die Implantate im Menschen regeln. Im Gesundheitsbereich können sie bahnbrechend sein. In der Kriegsführung und Spionage wird es heikel.

Rainer Will: "Stationäre Händler absolvieren mit einer Ritterrüstung einen Hürdenlauf, während digitale Giganten elegant vorbeisprinten."
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STANDARD: Sie sehen Konsumenten derzeit noch in einer digitalen Wohlfühlblase. Wann platzt sie?

Will: Das Ende der Wohlfühlblase kommt mit höheren Preisen und Qualitätsmängeln. 93 Prozent der Österreicher haben zumindest einmal bei Amazon eingekauft. Damit liegen fast 100 Prozent aller Bürgerdaten bei einem Konzern. Monopole haben mittelfristig immer zu einer Einschränkung des Angebots und höheren Margen geführt. Denn Produkte, die kleine Marge bringen, werden nicht mehr angeboten. Ohne Wettbewerber wird auch weniger auf Qualität geachtet – Amazon etwa tut viel zu wenig gegen Plagiate. Dazu kommt, dass Stadtkerne veröden. Monopole saugen Kaufkraft ab. Gerade in zersiedelten Regionen hat der Onlinehandel Relevanz, da keine Greißler ums Eck sind. Wir laufen auch auf höhere Preise zu, das Ende der Wohlfühlblase hat bereits begonnen.

STANDARD: Bequeme goldene Käfige hin oder her: Konsumenten haben auch stark von mehr Transparenz, niedrigen Preisen und hoher Nutzerfreundlichkeit profitiert.

Will: Ja, aber es gibt keine Kostenwahrheit. Gleichzeitig wird es uns bewusst, dass es Folgen hat, etwa ein Handycover aus China unter der 22-Euro-Grenze für kostenfreien Versand ins Waldviertel zu bestellen. Wir tun es trotzdem. Das ist die Bipolarität der Konsumenten. Ich bin für offene Märkte und freien Handel. Dennoch sind regulatorische Klammern notwendig. Sonst werden auch unsere Ortskerne immer weiter ausrinnen.

Influencer als neue beste Freunde: Reality-Star Kim Kardashian verdiene mit einem einzigen kommerziellen Post das Zwei- bis Vierfache des Jahresgehaltes eines Bundeskanzlers.
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STANDARD: Sie bezeichnen Konzerne wie Amazon als Superkleber, an dem viele Konsumenten wie schnüffelnde Süchtige hängen ...

Will: Diese haben die technologischen Möglichkeiten, bei Nutzern Süchte auszunutzen. Wir werden etwa süchtig nach Likes – so stark, dass Instagram diese aus Profitgründen nicht mehr anzeigt, weil Nutzer damit ihre eigenen Präferenzen über Bord werfen. Wodurch die Treffsicherheit der Werbung abweicht. Oder Postings: Im Abstinenzfall drohen Langeweile und der soziale Abstieg. Wer täglich nicht zumindest einmal etwas postet, wird schnell den digitalen Walls geopfert. Die Medikation wird alle zwei, drei Jahre gewechselt: Das fängt mit Facebook an, geht über Instagram bis hin zu Tiktok. Von der Präsenz durch Texte ging es also zur Dominanz der Bilder bis hin zu Videos. Irgendwann werden wir vieles nur noch in der Liveübertragung wahrnehmen.

STANDARD: Welcher finanzielle Schaden geht damit einher?

Will: Es werden nicht nur Produkte und Dienstleistungen verkauft. Es wird Bedarf für Dinge kreiert, die man bisher nicht brauchte. Influencer etwa sind als neue beste Freunde und Vorbilder ein starker Auslöser für Käufer. Der Reality-Star Kim Kardashian verdient mit einem einzigen kommerziellen Post bis zu das Vierfache des Jahresgehaltes eines Bundeskanzlers. Das kommt nicht von ungefähr.

STANDARD: Wie lässt sich im Netz mehr Kostenwahrheit herstellen?

Will: Im Lager von Amazon in Großebersdorf sind zu 90 Prozent Leiharbeiter beschäftigt. Der Anteil an Leiharbeit in Österreichs Handel liegt bei zwei bis drei Prozent. Ob bei Steuern oder Verpackung: Derzeit machen die einen das Geschäft, während die anderen zahlen. Der Gesetzgeber muss regulierend eingreifen. Wege zur Kostenwahrheit gibt es viele. Etwa über Plattformhaftung für Verpackungen. Nichts hier ist schwarz-weiß. Der stationäre Handel aber hat innerhalb von nur zehn Jahren 10.000 Geschäfte verloren.

STANDARD: Nicht unverschuldet. Zuvor wurde auf Teufel komm raus expandiert, den Onlinezug wiederum haben viele verpasst.

Will: Es gab Optimierung. Das Tortenstück holte sich der Onlinehandel. Klar hatten auch stationäre Händler die Chance, online aktiv zu werden. Aber diese Chance ließ sich aufgrund mangelnder Regulierung nicht nutzen. Stationäre Händler absolvieren nun mit einer Ritterrüstung einen Hürdenlauf, während die digitalen Giganten im eleganten Sprint vorbeirennen. Onlinepräsenz heißt auch, auf Seite eins bei Google zu sein. Alles andere ist irrelevant. Entweder habe ich alle Kunden oder keine. Die größten zehn Onlineanbieter in Österreich decken mittlerweile alle wesentlichen Umsätze ab. Für die 12.000 übrigen kleinen Webshops bleibt nichts übrig.

STANDARD: Steuerschlupflöcher sind weit geöffnet. Wie groß ist Ihr Vertrauen in die Politik, dass sich hier in nächster Zeit etwas ändert?

Will: Es gibt Grundübereinkommen, dass sich bei Steueroasen etwas tun soll. Der Druck wird stärker, wenn Staaten wie Frankreich eine Digitalsteuer einführen wollen. Der große Wurf aber wird noch lange auf sich warten lassen. (2.3.2020, Verena Kainrath)