Angefangen hat alles mit der Frage, was Jasmin im Leben wichtig sei. Gestellt wurde sie der 25-Jährigen am Wiener Westbahnhof von einem jungen Mann mit einem Tablet in der Hand. Er wolle eine Umfrage zum Thema für die Uni durchführen, sagte er. Ob Jasmin kurz Zeit hätte?

Religion, sagte Jasmin zu dem Mann, stehe bei ihr an erster Stelle. "Ich dachte, das wird ihn jetzt abschrecken." Doch weit gefehlt: Genau solche Leute brauche er, damit sie ihm bei seiner Studie helfen, sagte der junge Mann. Ob sie sich auf einen Kaffee treffen könnten?

Eine Studie über Kulturvergleich

Jasmin wollte nicht unhöflich sein. Als Dankeschön könne er den Kontakt zu seiner Professorin vermitteln, die eine Religionsgemeinschaft in Wien leite. "Er meinte, ich könnte von einem Gespräch mit ihr profitieren", erzählt Jasmin. "Das fand ich nett." Also traf sie sich mit ihr. Daraufhin erhielt sie eine Einladung zu einem Bibelkurs.

Magdalena war bei einer christlichen Veranstaltung und stand alleine, als eine Frau mit Tablet in der Hand auf sie zukam. Sie sei evangelische Theologin und mache eine Studie, es gehe um einen Kulturvergleich zwischen Südkorea und Österreich. Es sei so schwierig, Leute dafür zu gewinnen – ob sie Zeit hätte? Auch Magdalena wurde daraufhin zu einem Bibelkurs eingeladen.

Es sollten Monate vergehen, bevor die beiden junge Frauen realisierten, bei welcher Gruppe sie dort ein und aus gingen. Es handelte sich um die christliche Sekte Shincheonji, die sich auf die Apokalypse vorbereitet, im Zuge deren nur ihre Anhänger gerettet werden sollen. Die Gruppe geht davon aus, dass ihr Anführer Lee Man-hee physisch unsterblich sei. Doch von all dem soll anfangs keine Rede gewesen sein.

Die Aussteigerinnen Jasmin (vorne links, möchte anonym bleiben) und Magdalena (Mitte) wurden von Expertin Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen beraten. Sie wollen nun aufklären.
Foto: Regine Hendrich

Experten schätzen die weltweite Anzahl der Shincheonji-Anhänger auf 150.000 bis 200.000, davon etwa 100.000 in Südkorea. Dort droht dem Anführer Lee Man-hee gerade Ungemach: Die Stadt Seoul reichte eine Anzeige gegen ihn ein. Ihm blühen nun Mordermittlungen – weil er sich geweigert haben soll, nach dem Ausbruch des Coronavirus mit den Gesundheitsbehörden zu kooperieren, obwohl es unter den Anhängern eine starke Häufung von Ansteckungen gibt.

Im deutschsprachigen Raum wächst die Gruppe stetig. In Wien versuchen sie erst seit kurzem, Fuß zu fassen, Experten sprechen von einer überschaubaren Größe. Die beiden Aussteigerinnen berichten dem STANDARD und der Zeit im Bild nun erstmals von den Praktiken der Gruppe in Wien. Sie werfen Shincheonji vor, bewusst getäuscht worden zu sein.

Hilfe, Einladung, Bibelkurs

Gefallen hat Magdalena anfangs, dass der Kurs als Austausch in einer ökumenischen, englischsprachigen Bibelgruppe beschrieben worden sei. Alle Teilnehmer gehörten verschiedenen Glaubensrichtungen an. Besonders perfide: Die Gruppe sei überhaupt nicht an einem interreligiösen Austausch interessiert, sagt Johannes Lorenz, Studienleiter für Weltanschauungsfragen des Bistums Limburg: "Sie führen nur Scheindialoge mit anderen Religionen, weil diese ja Teil der bösen Welt sind." Zusätzlich gebe es auch Scheinorganisationen. "Man wird von der Gruppe bewusst in die Irre geführt", sagt auch Christoph Grotepass von der Sekten-Info Nordrhein-Westfalen. Sowohl säkulare Sektenberatungsstellen als auch die evangelische und katholische Kirche beschäftigen sich in Deutschland schon länger mit der Gruppe und wollen gemeinsam aufklären.

Es sei eine typische Masche der Gruppe, nach Hilfe für Referate oder Ähnliches zu fragen, sagt sein Kollege Johannes Lorenz. Das Gleiche berichtet die österreichische Bundesstelle für Sektenfragen. Experte Grotepass macht darauf aufmerksam, dass die Täuschung unter keinen bösen Absichten passiere: "Die Begründung ist, dass man im Kampf gegen finstere Mächte zu List greifen darf." Die Menschen sollen sozusagen zu ihrem Besten angelogen werden.

Kritische Nachfragen seien nicht erwünscht gewesen, sagen Jasmin und Magdalena.
Foto: ORF

Offenbarung per Video

Theologisch gilt Shincheonji als Neuoffenbarungsreligion. "Lee Man-hee spielt als Erlöserfigur eine entscheidende Rolle", sagt Johannes Lorenz. Laut der Gruppe befänden sich Christen zurzeit in einer verdorbenen Epoche, der letzten vor dem Weltuntergang.

Shincheonji solle die Endzeit einläuten und als einzige Gruppe die Apokalypse überleben. Grotepass verweist darauf, dass die Gemeinschaft ähnlich wie die Moon-Sekte aufgebaut sei, bei der Lee Man-hee früher auch angedockt habe.

Nach mehreren Wochen im Kurs ist Magdalena stutzig geworden: "Ich habe bemerkt, dass sie uns auf etwas vorbereiten wollen." Sie wurde zu einer Übernachtung eingeladen. "Dort kam dann die Offenbarung in Form eines Videos: dass das keine ökumenische Bibelgruppe, sondern alle Anhänger Lee Man-hees sind", sagt Magdalena. "Im Video hatten alle Leute das Gleiche an und machten die gleichen Bewegungen. Da schrillten meine Alarmglocken. Ich habe gewusst, ich muss da raus." Trotzdem dauerte es fast 24 Stunden, bevor sie wieder alleine einen Fuß auf die Straße setzte. Denn im nächsten Moment kam das zweite Video. "Herzlich willkommen, Magdalena!", hieß es dort. Lehrer aus dem Kurs sprachen Grußbotschaften. "Dann wurde das Licht abgedreht, ich wurde gefeiert. Ich habe nicht gewusst, wie mir geschieht."

Ein von Shincheonji selbst verbreitetes Bild – es soll Absolventen eines Bibelstudiums in Südkorea zeigen.
Foto: Cheonji Press

Das letzte Mal

Ab dann sei sie nicht mehr allein gelassen worden: "Einmal bin ich für zwei Minuten am Klo gesessen und habe nach einer südkoreanischen Sekte gegoogelt. Als ich wieder rausgekommen bin, habe ich mir gedacht: Alle sind so nett, meine Freunde würden mich doch nicht belügen?"

Zu Hause begann Magdalena zu googeln, sah sich Aussteigervideos an und sprach mit Außenstehenden. Sie ging nie wieder hin.

Oft wird die Identität der Gruppe erst nach etwa einem halben Jahr enthüllt, sagt Johannes Lorenz. "Das Problem ist, dass dann schon viel Zeit investiert, vielleicht der Kontakt zur Familie schon abgebrochen wurde." Das sieht auch Grotepass so: Es sei verletzend, sich einzugestehen, dass man sich geirrt hat. Dazu kommen oft Ängste vor Dämonen; davor, Gottes Schutz zu verlieren.

"Ich habe mich früher immer gefragt: Wer geht in eine Sekte?", sagt Magdalena. "Für mich waren das alte, einsame oder ungebildete Leute und nicht eine Studentin, die gerade einen Bachelor abgeschlossen hat. So wie ich."

Aber ist die Gruppe nun gefährlich? "Die Menschen werden nicht geschlagen oder gefesselt, aber für manche Anhänger wird sie zur Gefahr", sagt Grotepass. Es fließe zwar auch etwas Geld, aber problematischer sei, dass Anhänger teils ihre Ausbildung und ihre Familien vernachlässigen. Grotepass berichtet von Kündigungen, Trennungen und zurückgelassenen Kindern: "Man kann eindeutig von Manipulation sprechen."

Bild nicht mehr verfügbar.

Shincheonji-Gründer Lee Man-hee bei einer Pressekonferenz in Südkorea am 2. März 2020. Thema war der Ausbruch des Coronavirus in Südkorea und die Rolle der Gemeinschaft hierbei.
Foto: Reuters

"Jeder hatte einen Lernpartner, der sich als Freund vorgestellt hat", schildert Magdalena. "Aber sie waren eigentlich unsere Aufpasser. Sie haben uns ständig Nachrichten geschrieben, sind sogar ein Stück mit uns heimgefahren, sodass wir mit anderen wenig ins Gespräch kamen." Beratungsstellen berichten von Missionierungsteams, die gezielt Informationen über Teilnehmer sammeln. Sie raten Betroffenen bei unangenehmen Nachstellungen – besonders nach dem Ausstieg – dazu, die Polizei zu rufen.

Auch Jasmin spricht rückblickend von "Whatsapp-Terror". "Man kommt dann gar nicht mehr zum Nachdenken, das Leben dreht sich nur mehr um die Leute und um Bibelinhalte", sagt Jasmin. Sie wandte sich ab, als sie online auf einen Erfahrungsbericht stieß. Beiden Frauen half, dass sie im Bibelkurs nach theologischem Austausch und nicht nach einem neuen Freundeskreis suchten. Die Gemeinschaft spreche bewusst Menschen an, die neu in der Stadt seien, sagen Experten.

Beide versuchten nach ihrem Ausstieg, andere Kursteilnehmer aufzuklären – und scheiterten. Die anderen würden stets abgeschirmt. Mit einem Kollegen kam Magdalena schließlich kurz ins Gespräch: "Aber ich redete bereits gegen eine Wand."

Die mutmaßliche Leiterin von Shincheonji in Wien sagte einem Interview zuerst zu, dann wieder ab. Auf die erhobenen Vorwürfe reagierte sie nicht. (Vanessa Gaigg, 4.3.2020)