Flüchtlinge bei der Ankunft in Lesbos.

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Luftschlag von Pro-Regime-Kräften in der Provinz Idlib.

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"Neue Zürcher Zeitung": Erdoğans zynisches Spiel

"Die Bilder von der Grenze rufen Erinnerungen an die Flüchtlingskrise wach und sollen das aus Ankaras Sicht sicherlich auch tun. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen von 2015 wäre aber kaum im Interesse der Türkei. Vielmehr soll der Preis für die Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage in die Höhe getrieben werden. Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei, in der sich Ankara zu einem stärkeren Grenzschutz verpflichtet hat, sorgte ab 2016 für einen drastischen Rückgang des Migrationsstroms nach Europa. Konkrete Forderungen hat Ankara bisher nicht gestellt, doch ist man sowohl auf militärische als auch auf diplomatische und finanzielle Unterstützung angewiesen. (...)

(Recep Tayyip, Anm.) Erdoğan hat mit seinem Manöver auf dem Rücken der Flüchtlinge den Europäern vor Augen geführt, dass Idlib und Syrien auch ihr Problem ist. Das Spiel ist zynisch, wirkungslos ist es aber nicht."

"Die Tageszeitung": Was nützt den Syrern?

"Natürlich agiert der türkische Präsident Erdoğan nicht aus selbstlosen Motiven, sondern aus machtpolitischen. Aber das ändert nichts am Ergebnis. Jeder Tag, an dem die syrischen und russischen Bomber am Boden bleiben, und jeder Kilometer, den die türkischen Soldaten mit ihren syrischen Verbündeten gutmachen, rettet in Idlib Menschenleben.

Aus Europa und speziell in Teilen der linken Politik wird dies von der Antipathie gegen Erdoğan verstellt. Man analysiert politische Optionen nicht unter der Fragestellung, ob sie den Syrern nützen, sondern ob sie Erdoğan nützen. Unter dieser Sichtweise gilt dann Nichtstun als klug."

"Süddeutsche Zeitung": Druck auf Putin

"Die Flüchtlinge, die sich zu Hunderttausenden an der Grenze sammeln, will Erdoğan nicht ins Land lassen. Das ist auch verständlich, die Türkei hat schon fast vier Millionen Syrer aufgenommen. Wenn Erdoğan den Menschen, die sich bereits in die Türkei geflüchtet haben, aber vorgaukelt, sie könnten nach Europa weiterziehen, wird auch das nicht für Frieden sorgen. Schon gar nicht mit dem Nachbarn Griechenland, der seine Grenzen nun mit Tränengas verteidigt. Auch (Wladimir, Anm.) Putin benützt die Flüchtlinge in seinem zynischen Kalkül, er will den Druck auf die Türkei erhöhen. Was bleibt? Europa muss den Druck auf Putin erhöhen, notfalls mit Sanktionen, die Gewalteskalation in Idlib zu beenden."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": Mitleidender Dritter

"In dieser Lage hat der türkische Präsident Erdoğan die vielen Flüchtlinge, die im Land sind oder in die Türkei drängen, wieder als 'Waffe' entdeckt. Er lässt zehntausende Menschen an die Grenze zu den EU-Ländern Griechenland und Bulgarien gelangen, um so den Druck auf die EU zu erhöhen, ihn, in welcher Form auch immer, stärker zu unterstützen. Aber mit seinen Eskapaden in Syrien und mit seiner Anbändelei mit Russland hat sich Erdoğan verrannt; mit militärischem Beistand wird er nicht rechnen können. (...)

Die EU und ihre Mitgliedstaaten erfahren aufs Neue, was es bedeutet, wenn in der Nachbarschaft Chaos herrscht und Staaten wie Russland und die Türkei ihre Interessen durchzusetzen suchen – ohne Rücksicht auf Verluste. Europa ist mitleidender Dritter und versagt beim Schutz seiner Interessen. Das darf so nicht bleiben!"

"La Repubblica": Nationalstaaten versagen

"Europa ist von Natur aus ein Bündnis von Mitgliedsstaaten mit oft widersprüchlichen Interessen. Aus diesem Grund mag es keine unsicheren Lagen. Wenn nicht klar ist, welche Interessen die einen verfolgen und welche die anderen, dann weiß man auch nicht, wie man die Suche nach Kompromisslösungen zwischen den Regierungen gestalten soll. Heute besteht dabei die Gefahr, dass die EU durch zwei globale Notsituationen in die Knie geht.

Dabei zeigt sich die Unsicherheit und die Schwierigkeit, Prioritäten und Interessen jedes Einzelnen festzulegen, als dominierendes Merkmal. Zum einen ist da die Coronavirus-Epidemie. Und zum zweiten die von der Türkei verschärfte Migrationskrise, mit der syrische Flüchtlinge als Mittel der Erpressung einsetzt werden, um Unterstützung von den Europäern in ihrem Krieg in Syrien zu bekommen. Beide Krisen sind das Ergebnis des Versagens der Nationalstaaten, auf Notlagen zu reagieren, die in ihre Zuständigkeit fallen würden."

"El Periódico": Hinausgeschobenes Problem

"Die Stimmen, die 2016 das Abkommen EU-Türkei kritisiert und in Zweifel gestellt hatten, das die Türkei ein sicheres Land für Flüchtlinge sei, hatten recht. Die jüngsten Ereignisse bestätigen, dass sich vor den Toren Europas ein großes Problem zusammenbraut, dessen Lösung in der schlimmstmöglichen Form hinausgeschoben wurde. Damals hatte einige bezweifelt, dass die türkische Regierung in der Lage sei, sich um die Flüchtlinge zu kümmern. Jetzt stellt es sich heraus, dass das türkische Regime sogar ein Teil des Problems ist. (...)

Man kann behaupten, dass Europa vor fünf Jahren sich nicht wirklich um die dramatische Migrationskrise hat kümmern wollen. Heute steht man kurz vor einem größeren Konflikt. Es besteht die Gefahr, dass der Syrien-Krieg, der längst zur Regionalkrise geworden ist, nun auch Europa in seinen Strudel zieht."

"Berlingske": Riskante Strategie

"Die Entwicklung zeigt, dass es eine riskante Strategie ist, die Lösung des Asyldrucks an den europäischen Grenzen in andere Länder auszulagern. Damit wird man leicht zum Opfer von Erpressungsversuchen, genauso wie wir nicht erwarten können, dass die Rechte von Flüchtlingen respektiert werden. Vereinbarungen mit Drittländern wie der Türkei dürfen niemals allein stehen. Wenn wir sehen, wie jetzt Zehntausende von Menschen versuchen, die Grenze nach Griechenland zu überwinden, werden wir daran erinnert, wie wichtig es ist, die Außengrenzen der EU wirksam zu schützen. Wir müssen gemeinsam sicherstellen, dass kein Chaos entsteht und dass nicht das Recht des Stärkeren darüber entscheidet, wer in Europa Schutz finden kann."

"Die Welt": Notwendige Realpolitik

"Die EU-Finanzhilfen für die Türkei müssten massiv erhöht werden. Dort kommen immer mehr Flüchtlinge aus dem syrischen Kriegsgebiet an, fast eine Million Menschen sind auf der Flucht. Sie werden zur Belastung für den Bosporus-Staat. Andererseits kann die Europäische Union nicht zulassen, dass Erdoğan sie nach Belieben mit der Öffnung von Grenzen und dem Zuzug von Migranten erpresst. Der Grenzschutz in Griechenland und Bulgarien, aber auch weiter nördlich auf der Westbalkanroute muss jetzt sofort mit tausenden Polizisten und Soldaten aus EU-Ländern verstärkt werden. Sie müssen illegale Migration mit Härte unterbinden. Das entspricht weder dem Gebot der Humanität noch den internationalen Vereinbarungen. Aber es ist notwendige Realpolitik – inmitten eines Dilemmas." (APA, red, 2.3.2020)