Weil die Türkei verbreitet hatte, dass die Grenzen offen seien, strandeten zehntausende Migranten und Flüchtlinge vor den griechischen Stacheldrahtzäunen entlang der Landgrenze.

Foto: EPA/DIMITRIS TOSIDIS
Die griechische Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas gegen die Flüchtenden ein. Und auch auf der der Insel Lesbos eskalierte die Lage. Anwohner ließen Flüchtlingsboote nicht an Land kommen. Seit vergangenem Sommer ist das dortige Flüchtlingslager drastisch überbelegt.
DER STANDARD

FakeTurkishPropaganda lautete der Hashtag auf Twitter, der die Gemüter in Griechenland am Montag bewegte. Regierungssprecher Stelios Petsas reagierte scharf auf Nachrichten und ein Video, wonach ein syrischer Flüchtling an der türkisch-griechischen Grenze durch einen Schuss der Grenzbeamten ums Leben gekommen sei. Man solle all jenen Berichten mit Vorsicht begegnen, die die türkische Propaganda unterstützen, meinte er. Tatsächlich verbreiten sich solche Gerüchte seit Jahren an den EU-Außengrenzen.

Als die Balkanroute im Frühjahr 2016 an der griechisch-mazedonischen Grenze geschlossen wurde, wurde etwa verbreitet, dass ein "Baby gestorben" sei. Die griechische Regierung wies auch darauf hin, dass die Information, wonach die Grenze zu Griechenland geöffnet sei, eine türkische Desinformationskampagne sei.

Aufgrund dieser waren in den vergangenen Tagen tausende Migranten und Flüchtlinge, die sich in der Türkei aufhielten, an die Landgrenze bei Edirne gereist. Sie dachten, sie könnten nach Griechenland gelangen. Einigen gelang das auch, weil sie den Fluss Evros durchschwammen, andere konnten durch ein Loch im Zaun über die Grenze gelangen. Doch die große Mehrheit – etwa 18.000 Personen, die sich im grenznahen Gebiet aufhalten – wurde durch die griechischen Beamten, Grenzanlagen, Tränengas und Wasserwerfer aufgehalten.

Falschmeldungen

Die griechische Armee kündigte am Montag eine Feuerübung an der Landgrenze an, die 24 Stunden dauern soll. Das Gebiet wurde als "gefährlich" bezeichnet, es wurde untersagt, dass sich Personen oder auch Vieh dort aufhalten.

Viele Migranten und Flüchtlinge, die den Falschmeldungen aufgesessen waren und teils sogar mit organisierten Bussen von der Türkei an die Grenze gebracht wurden, sind nun enttäuscht. Ähnliches spielte sich im September 2015 an der ungarisch-serbischen Grenze ab, als diese abgeriegelt wurde. Auch wenn es bereits seit vier Jahren keine Möglichkeit mehr gibt, über die Grenzen in Südosteuropa nach Mitteleuropa zu kommen, hält sich bei vielen Migranten und Flüchtlingen die Idee, dass irgendwann wieder die Schlagbäume aufgehen, wie dies 2015 der Fall war.

Rasche Intervention

Die Regierung in Athen forderte indes Frontex auf, beim Grenzschutz behilflich zu sein. Die EU-Grenzschutzagentur bewilligte am Montag eine rasche Intervention. Nun muss innerhalb von drei Tagen ein Einsatzplan erstellt werden, so Frontex zum STANDARD. Daraufhin werden die EU-Staaten aufgefordert, unverzüglich Grenzschutzbeamte und anderes relevantes Personal aus dem Schnellreaktionspool von etwa 1500 Experten bereitzustellen. Dies soll innerhalb von fünf Tagen geschehen.

Die deutsche Zeitung Die Welt veröffentlichte einen "vertraulichen Bericht" von Frontex, in dem auf die Rolle der sozialen Medien verwiesen wird, über die in Windeseile Informationen verbreitet würden, die dazu führten, dass sich Leute in Bewegung setzen.

Die griechische Regierung kündigte an, für einen Monat keinerlei Asylanträge von Personen, die illegal eingereist sind, anzunehmen. Da es keine Migranten und Flüchtlinge gibt, die legal einreisen, bedeutet dies, dass gar keine Neuanträge gestellt werden können. Möglicherweise wird dies aber nicht viel ändern. Denn viele Migranten warten schon bisher wochenlang, bis sie zum ersten Interview geladen werden.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan betonte am Montag nochmals, dass die "Grenzen offen" seien und "Millionen Menschen" bald nach Europa reisen würden. "Nun müssen Sie Ihren Teil der Last tragen", sagte der Staatschef Richtung EU.

Experte Knaus warnt vor Zerbrechen der Genfer Konvention

Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus, ein Mit-Entwickler des EU-Türkei-Abkommens, hat angesichts der Migrationskrise an der türkisch-griechischen Grenze vor einem Zerbrechen der Genfer Flüchtlingskonvention gewarnt. Knaus übte zugleich am Montagabend in der ZIB2 scharfe Kritik am "Versagen der europäischen Eliten".

Migrations-Experte Gerald Knaus gilt als einer der Miterfinder des EU-Türkei-Deals. Er klärt über Hintergründe auf, die die Situation im türkisch-griechischen Grenzgebiet derzeit eskalieren lassen..
ORF

Die EU müsste nach Worten von Knaus sofort versuchen, was die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bereits im Hintergrund getan habe, nämlich klare Zusagen abgeben, dass man sich an finanzielle Verpflichtungen gegenüber der Türkei hält. Dass die EU Geld verspreche, liege in ihrem Interesse. "Hier steht die Flüchtlingskonvention und das internationale Flüchtlingsregime insgesamt auf dem Spiel", sagte der Migrationsexperte.

Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Tore für Flüchtlinge in die EU geöffnet habe, sei "ganz klar eine unmoralische Aktion", sagte Knaus. Die Türkei stehe allerdings unter enormem Druck. Die EU habe es in den vergangenen drei Monaten nicht geschafft, die weitere Finanzierung des Flüchtlingspaktes zu klären. Ohne Einigung mit der Türkei könne Griechenland "nichts machen". Dass Griechenland nun das Asylrecht ausgesetzt habe, sei eine "Verzweiflungstat". Griechenland habe in den vergangenen fünf Jahren 200.000 Asylanträge entgegengenommen, dies seien um 70.000 mehr als Österreich im selben Zeitraum.

Erdogan sagt Krisentreffen ab und fordert Lastenteilung

Der bulgarische Premier Bojko Borrisow fuhr indes am Montag nach Ankara, um mit Erdogan über die Migrationssituation zu sprechen. Das Vermittlungsgespräch scheint aber gescheitert zu sein. Erdogan beschuldigte die EU erneut, im Gegensatz zur Türkei ihre Verpflichtungen zum Flüchtlingsabkommen nicht zu erfüllen und sagte das geplante Krisentreffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Konstantinos Mitsotakis und der EU-Spitze ab. Der türkische Präsident griff die griechischen Sicherheitskräfte scharf an und beschuldigte sie, für den Tod von zwei Migranten an der Grenze verantwortlich zu sein.

In einem Telefonat mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte Erdogan eine "gerechte Aufteilung der Last und der Verantwortung gegenüber Migranten" zwischen der EU und der Türkei.

An der bulgarisch-türkischen Grenze blieb es in den letzten Tagen relativ entspannt. Auf Ersuchen Athens wird diese Woche ein außerordentliches Treffen der EU-Außenminister zur Migrationskrise abgehalten.

Auch wenn die griechischen Behörden relativ effektiv die Landgrenze abriegeln können, so ist das mit der Seegrenze nicht möglich. Allein seit Sonntag kamen 1000 Migranten von der türkischen Küste mit Schlauchbooten auf die Ostägäischen Inseln (siehe Seite 3). Im Vergleich dazu waren es eine Woche zuvor pro Tag "nur" etwas mehr als hundert gewesen. Der Hintergrund: Die türkische Küstenwache hält die Migranten nicht mehr auf. Im Gegenteil: Griechische Medien verbreiteten Fotos, auf denen die türkische Küstenwache ein Boot mit Flüchtlingen sogar Richtung Griechenland begleitete.

Ein Dingi – so werden Schlauchboote genannt – kenterte in den Wellen vor Lesbos. Ein Kind ertrank. Auf der Insel Lesbos gibt es einen weit abgelegenen Friedhof in einem Olivenhain, auf dem jene Menschen begraben werden, die ertrinken oder im Lager Moria sterben. Hier gibt es dutzende Gräber ohne Namen. (Adelheid Wölfl, red, 2.3.2020)