Im Gastkommentar verwahrt sich Ethik-Lehrer Clemens Sander dagegen, den Ethikunterricht für Religionsabmelder und Konfessionslose schlechtzureden.

In letzter Zeit mehren sich die Stimmen für einen verpflichtenden Ethikunterricht für alle, die Werbung für das entsprechende Volksbegehren wird intensiviert. Obwohl ich mich als begeisterter Lehrer dieses Faches – an meiner Schule läuft der Schulversuch – darüber freue und auch lieber ganze Klassen in meinem Unterricht hätte, halte ich so manche Polemik gegen die beschlossene Einführung als Alternativgegenstand für übertrieben und irreführend. So nennt Susanne Wiesinger, die ehemalige Ombudsfrau für Wertefragen im Bildungsministerium, das geplante Modell eine "reine Augenauswischerei", und Lisa Nimmervoll warnt in ihrem Kommentar im STANDARD (siehe "Die ethische Lücke") vor einer "Zwangsbelehrung für Nichtreligiöse". Ich halte dies für eine Verunglimpfung, die nicht der Realität entspricht. Erstens ist ein philosophischer Ethikunterricht per se keine "Belehrung", zweitens sitzen in meinen Gruppen immer mindestens drei Viertel konfessionelle Schülerinnen und Schüler – also freiwillig, ganz ohne Zwang.

Diskussions-Lust

So kann man es nämlich auch sehen: Es gibt eine Option mehr, die gern und immer zahlreicher in Anspruch genommen wird. Ja, die meisten haben eine gleichgültige oder skeptische Haltung zu der jeweiligen Religion, der sie auf dem Papier angehören, aber es gibt auch solche, die ihrem Glauben treu bleiben und einfach deshalb zu Ethik wechseln, weil ihnen erzählt wurde, dass es spannend ist.

Mutige und selbstbewusste religiöse Schülerinnen und Schüler stellen sich dem "Risiko" der Diskussion – und das ist eine Bereicherung für den Unterricht. In Ethik geht es nicht darum, jemandem einen Glauben auszutreiben oder zu stärken, sondern darum, junge Menschen zum Selberdenken anzuregen, damit sie nicht nur die "Pro domo"-Argumente – ganz egal für welches "Haus" – kennen und nicht ungedacht lassen, was – nach Nietzsche – gegen die eigenen Gedanken gedacht werden kann.

Eine Plastik des Philosophen Friedrich Wilhelm Nietzsches (1844–1900) in dessen Geburtsort Röcken.
Foto: APA / Sebastian Willnow

Ideologischer Reflex

Eine ob der Wahlfreiheit "diskriminierende Einführung dieses wichtigen Fachs" sehe ich im Gegensatz zu den Initiatoren des Volksbegehrens jedenfalls nicht gegeben. Auch der Vorwurf an die Grünen, die Einführung des Alternativgegenstandes ermöglicht zu haben, obwohl diese Idee aus dem türkis-blauen Programm stammt und sie daher eine "rechte" Idee mittragen, entspringt mehr einem ideologischen Reflex als einem pragmatischen Engagement für mehr Ethik in der Schule. Die zukünftigen Ethikschülerinnen, -schüler und -lehrenden werden den Grünen jedenfalls dankbar sein, dass sie nicht wie die SPÖ durch eine sture "Alles oder nichts"-Mentalität die Einführung um weitere verlorene Jahre blockiert haben.

Ein "Appetitanreger"?

Ein letzter Punkt zum Volksbegehren. Dieses fordert, dass niemand zugleich Ethik- und Religionslehrer sein dürfe. Die Bedenken liegen darin begründet, ursprünglich Religion Unterrichtende könnten Ethik dafür benutzen, Schülerinnen und Schüler à la Kierkegaard in die christliche Wahrheit "hineintäuschen" zu wollen. Bildungsminister Heinz Faßmann schürte diesen Verdacht, indem er meinte, die Beschäftigung mit dem Transzendenten im Ethikunterricht könne auch als "Appetitanreger" der Religion dienlich sein.

Aber anscheinend ist Werbung für die katholische Lehre nicht einmal im katholischen Religionsunterricht erwünscht. Ein junger Religionslehrer erzählte mir, dass er jedes Jahr vom katholischen Schulamt an eine andere Schule strafversetzt wurde, weil sich einzelne Schüler darüber beschwert hatten, dass er zum Thema Homo-Ehe oder Abtreibung die offizielle katholische Position dargelegt hatte. Da ein Religionslehrer, der seine Missio canonica ernst nimmt, offensichtlich selbst unter Religionslehrern als Ausnahme und schwarzes Schaf gilt, ist nicht davon auszugehen, dass viele Glaubenskämpfer den Ethikunterricht zu unterwandern drohen.

Mein Resümee: Nur weil das Ideal noch nicht erreicht ist, muss man die Alternative nicht verdammen. Es ist kein Widerspruch, Ethik für alle für das Beste zu halten und die Implementierung des Schulversuchs als Alternativgegenstand im Regelschulwesen als Fortschritt zu begrüßen. (Clemens Sander, 3.3.2020)