Zahlreiche Flüchtlinge und Migranten – Männer, Frauen und Kinder – kommen auf den griechischen Ägäis-Inseln wie Lesbos an.

Foto: AFP / Aris Messinis

Sonntagmorgen im Fischerdorf Skala Sikamineas. Der saure Geruch der Olivenölfabrik liegt in der Luft. "NGO oder Journalisten?", fragen die griechischen Polizisten. Sie nehmen die Personalien der humanitären Helfer auf, die sich seit Jahren in der Organisation Lighthouse Relief um die Erstversorgung der ankommenden Flüchtlinge kümmern. Es ist die Nacht von Samstag auf Sonntag.

Die Temperaturen erreichen fast den Gefrierpunkt, als das erste Boot in den frühen Morgenstunden über den Kies der Küste schrappt. Es sind 53 Menschen auf dünnen Holzpaletten in einem silbernen Plastikboot. Nur zwei Menschen haben Schwimmwesten an. Die Menschen schleppen sich an den Strand. Eltern küssen ihre Kinder auf die Stirn. Andere nehmen sofort ihr Handy in die Hand. "Wir sind in Sicherheit", brüllt ein afghanischer Vater von vier Kindern in den Hörer.

Wärmefolien für Kinder

Die Helferinnen der Organisation Lighthouse Relief gehen zu jeder Person, wickeln den Kindern Wärmefolien um Kopf und Füße. Ein Mädchen hat sich die Beine auf dem Boot eingeklemmt. Sie sind steif geworden. Ihr Blick richtet sich starr auf die Wellen.

Ein kurzer Moment der Ruhe. Dann schlagen die Autotüren. Mit blitzenden Lichtern treffen die ersten TV-Journalisten ein. Scheinwerfer blenden die Ankommenden, die sich auf die Grasbüschel zwischen die Steine setzen. Eine türkische Journalistin hält einem kleinen Mädchen in nassen Hosen ein oranges Mikrofon entgegen. Das erste Boot des Tages kommt nach der angekündigten Grenzöffnung an der Küste von Lesbos an. In einem Europa, das sich in der Hysterie über offene Grenzen selbst verschlingt.

Eine halbe Stunde später erfolgt der Anruf, dass ein zweites Boot an den schroffen Küsten etwa eine halbe Stunde östlich gelandet sei. Wieder schlagen die Autotüren zu. Auch die Helfer der Organisation Lighthouse Relief fahren los, um Erste Hilfe zu leisten. Es wird eines der letzten Boote sein, welche die humanitären Helfer in Empfang nehmen können.

Mit Verhaftung gedroht

Ein paar Stunden später ordnet die lokale Polizei an, dass die Organisationen nicht mehr bei der Ankunft assistieren sollen. Sonst droht Verhaftung. Die angekommenen Menschen bleiben im Staub der Autos zurück.

Fünf Stunden später warten die Angekommenen noch immer auf den Bus, der sie in das Flüchtlingslager von Moria bringen soll. Die Kinder laufen mit goldenen Folienmützen, die wie Hasenohren in die Luft ragen, den Strand entlang und sammeln Feuerholz. In der Mitte der Gruppe versuchen einige Männer, das nasse Holz zum Brennen zu bringen.

Eine Stunde später, an der Zufahrtsstraße zum Registrierungscamp von Moria, kommt der Bus mit den noch immer nassen Menschen der Küste nicht durch.

"Geht zurück!"

Eine Gruppe von Menschen blockiert die Zufahrt. Ältere Männer in blauen Leinenjacken, Frauen mit Frappé-Kaffeebechern in der Hand laufen vor dem Bus her. "Geht zurück! Wir wollen euch nicht", schreien sie. Ein paar junge Griechen lehnen am Zaun. Die Arme verschränkt, eine kollektive Parole – die den Hass gegen die Ankommenden erklärt.

Ein Video, gefilmt aus dem Businneren, zeigt die Stille, die sich im Bus breitmacht. Die Geflüchteten, die am Morgen im Norden der Insel angekommen sind, starren wortlos aus dem Fenster, der hasserfüllten Gruppe entgegen.

Die Inselbewohner fühlen sich von der eigenen Regierung alleingelassen. Sie nehmen sich als Lastenträger der EU-Mitgliedsstaaten wahr, die keine Verantwortung übernehmen wollen. Und doch sind die Motive eines jeden Einzelnen anders. Während die einen wieder zur Normalität zurückkehren wollen, mobilisieren die anderen gezielt gegen humanitäre Helfer und Geflüchtete.

"Wir wollen unsere Insel wieder", schreit ein junger Mann vor dem Polizeibus. Das vorherrschende Gefühl: Sind die Helfer einmal weg, setzen auch die Geflüchteten nicht mehr über. Geöffnete Grenzen hin oder her.

An diesem Sonntag kommen 700 Flüchtlinge auf der Insel an. Siebenmal mehr als der tägliche Durchschnitt in diesem Jahr. Laut Polizei haben bis Montag 1.300 Schutzsuchende die Ägäischen Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos erreicht. Einzelne rechtsradikale Gruppen bewaffnen sich auf der Insel mit Ketten, Steinen und Messern und schlagen bewusst auf gemietete Autos ein, da sie internationalen Helfern gehören könnten.

Im Video zur aktuellen Lage an der griechisch-türkischen Grenze sehen Sie auch Szenen aus Lesbos.
DER STANDARD

"Wir mussten fliehen"

Währenddessen sitzt inmitten der dampfenden Zeltstadt, die sich rund um das Kernlager von Moria ausgebreitet hat, die afghanische Familie Shai* um einen Topf mit weißem Reis, der über offenem Feuer kocht. Sie sind vor drei Tagen auf der Insel angekommen. Nach ihrer Ankunft irrten sie eine Nacht in nassem Gewand umher, bis sie nach mehreren Stunden von der Polizei zur Registrierung ins Camp gebracht wurden. "Mein Vater wurde von den Taliban ermordet und viele meiner Cousins", sagt Rahib Shai, "Wir kommen aus einer der gefährlichsten Gegenden in Afghanistan. Wir mussten fliehen."

In der Türkei fühlte er sich mit seiner Familie nicht mehr sicher. Sie hatten Angst, von dort aus zurück nach Afghanistan deportiert zu werden. "Meinen Sohn kann ich nicht mehr waschen", sagt die Mutter. Sie deutet auf die volle Windel. "Die Duschen sind zu jeder Tages- und Nachtzeit überfüllt. Manchmal warten wir bis zu sechs Stunden in der Schlange." Es sind nur noch die NGOs, die die riesigen Versorgungslücken zu stopfen versuchen.

Helfer flüchten

Doch schon einen Tag später verlassen immer mehr freiwillige Helfer aus Sicherheitsgründen die Insel. Auch die Erstversorgungsoperationen im Norden werden eingestellt. Dort kocht ein griechischer Restaurantbesitzer für die Gestrandeten an den Küsten. Vor den Toren des Flüchtlingslagers schließt auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ihre Kinderklinik.

"Wir haben Angst", sagt Yasmin Harari* am Telefon. "Wir trauen uns nicht mehr hinaus aus dem Zelt. Überall Tränengas. Wir sind hier alleine!" Seit über einem Jahr lebt die 23-jährige Somalierin im Lager. Sie begleitet Menschen bei Behördengängen oder Notfällen ins Krankenhaus. Sie übersetzt für die Menschen vor Ort. Immer bewahrt sie die Ruhe, doch jetzt, als sie am Eingang des Camps Tränengas aufsteigen sieht, sagt sie: "Es ist wie in Somalia hier. Wir sind komplett auf uns allein gestellt." (Franziska Grillmeier aus Mytilini, 2.3.2020)

*Namen von der Reaktion geändert