Nils Pickert, "Prinzessinnenjungs. Wie wir unsere Söhne aus der Geschlechterfalle befreien." € 19,50 / 254 Seiten. Beltz-Verlag, Weinheim 2020.

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Nils Pickert: "Wenn Sie Ihre Jungen geschlechtergerecht erziehen wollen, ist es wichtig, sich möglichst nicht in die Tasche zu lügen."

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Warum frustriert es uns, wenn unser Kind für ein Mädchen gehalten wird, obwohl es ein Junge ist – und andersherum?
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Mein dreijähriger Sohn hat keine Lust mehr auf seine langen Haare. Es ist Sommer, ihm ist heiß, und außerdem war sein bester Freund auch gerade erst beim Friseur. Also sitzt er mit großen Augen auf meinem Schoß, befühlt interessiert den Umhang, der seine Kleidung vor herabfallenden Haaren schützen soll, und wartet, was passiert. "Wie darf ich schneiden?", fragt der Friseur. "Kurzhaarschnitt!", sage ich. "Seiten rasieren, oben ein bisschen länger." Der Friseur stutzt. Er läuft um uns herum und betrachtet meinen Sohn von allen Seiten. "Kurz?", fragt er zweifelnd. "Ähm, ja, wieso?" "Bin gleich wieder da."

Der Friseur verschwindet in den hinteren Teil des Salons. Etwas ratlos schaue ich ihm nach. Auf meinem Schoß rutscht mein Junge unruhig hin und her, weil es jetzt endlich losgehen soll. Der Friseur kommt zurück. In den Händen hält er einen Frisurenkatalog, den er uns präsentiert. Mit leiser Stimme macht er mir Vorschläge. "Schauen Sie doch mal hier." Ich betrachte verwirrt die Bilder. Sie zeigen mehr oder weniger kunstvolle Langhaarfrisuren. Bis ich merke, wo das Problem liegt, dauert es einige Momente. Schließlich verstehe ich und sage den alles entscheidenden, anscheinend erlösenden Satz: "Er ist ein Junge." Der Friseur entschuldigt sich daraufhin wortreich und beginnt ohne Umschweife, meinem kleinen Kerl die Haare zuschneiden. Nach Beendigung des Schnitts ist er in den Worten des Friseurs "nun ein richtiger kleiner Junge". Die Frisur finde ich gut. Alles andere aber nicht.

Aus Julian wird ganz schnell Julia

Die Mathematiklehrerin meines neunjährigen Sohnes hat meine Lebenskomplizin und mich zu einem Gespräch eingeladen. Wir sprechen über seine Leistungen und Möglichkeiten, wie wir seine Begeisterung für Zahlen weiter füttern können. Es ist ein sehr nettes Gespräch. Mehr als einmal werfen die Lebenskomplizin und ich uns Blicke zu, um uns telepathisch darüber zu verständigen, dass wir froh sind, diese Frau als Mathelehrerin für unseren Sohn zu haben. "Eine Sache wäre da noch. Es geht um die langen Haare Ihres Sohnes." "Wieso, was ist denn mit denen?" "Sie fallen ihm beim Schreiben immer ins Gesicht. Er bräuchte für den Unterricht ein Zopfgummi, damit ihn das nicht so beim Arbeiten stört." Innerlich gebe ich ihr sofort recht. Das ist mir zu Hause auch schon aufgefallen. Ständig hängen ihm Haarsträhnen vor den Augen, weil er sich aus Zöpfen nichts macht. Ich bin schon dabei, einzuwilligen, als meine Lebenskomplizin noch eine Frage hat: "Haben Sie den Eltern der Mädchen, die ihre langen Haare offen tragen, auch dazu geraten?" "Nein, wieso?!"

Nils Pickert sieht sich an, wie Buben heutzutage aufwachsen: Welche Versionen von Männlichkeit unterstützen wir, bewundern wir, leben wir offen vor?
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Das sind nur zwei Beispiele dafür, warum Geschlechtsidentität für Jungen nach wie vor eine haarige Sache ist. Allen langmähnigen jugendlichen Subkulturen, Männermodels und Hipstern mit Man-Buns zum Trotz: Lange Haare bei Jungen sind immer noch ein Geschlechtspolitikum. Ganz ähnlich wie kurze Haare bei Mädchen. Für Erwachsene trifft das mittlerweile weniger zu. Der Friseur, der sich zunächst weigerte, meinem Sohn die Haare kurz zu schneiden, weil er ihn für ein Mädchen hielt, trug schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Es war also nicht so, dass er sich Männer mit langen und Frauen mit kurzen Haaren überhaupt nicht vorstellen konnte. Nur bei Kindern hatte er damit so seine Schwierigkeiten.

Und da ist er nicht allein. Denn die Erkennungsmerkmale, an denen wir Geschlecht für gewöhnlich zuschreiben, sind in jungen Jahren noch nicht besonders ausgeprägt. Stimmlage, Brustentwicklung, Bartwuchs, Muskulatur, weiche oder kantige Gesichtszüge – nicht nur die erwähnten Baby-X-Versuche zeigen, dass das Geschlecht von Babys und kleinen Kindern für uns gar nicht so einfach zu bestimmen ist. Mit der entsprechenden Farbwahl und einigen Accessoires wird aus Julian ganz schnell Julia (und umgekehrt) –und dementsprechend wird das Kind dann auch behandelt. Wenn es allerdings andere Merkmale gibt, die wir für eindeutig zuordenbar halten, fallen Haare nicht so sehr ins Gewicht. Zum Vergleich: Der Friseur meines Sohnes hat eine tiefe, leise Stimme, trägt einen Bart, und sein Oberarmumfang entspricht etwa dem meines Kopfes. Er läuft in keiner Weise Gefahr, durch seine langen Haare als Frau gelesen zu werden.

Prädikat Mädchen: Festgeklebt

Er hat seine Schuldigkeit hinsichtlich geschlechtlicher Identifizierbarkeit getan. Bei Babys ist das hingegen nicht der Fall. Wie tief die daraus resultierende Verunsicherung bei einigen geht, lässt sich an Produkten wie Girlie Glue ablesen. Girlie Glue wurde von der US-Amerikanerin Katie Hydrick entwickelt, die es nach eigenem Bekunden satt hatte, dass Haarbänder und -reifen auf dem Kopf ihrer kleinen Tochter nicht hielten. Also kreierte sie in der heimischen Küche einen biologischen Kleber aus Agavensaft und anderen Zutaten, um kleinen Mädchen Schleifchen an den Kopf kleben zu können. Anschließend vermarktete sie das Produkt mit dem Slogan "Es ist nie zu früh, ein echtes Girlie zu sein". Damit entfachte sie allerdings nicht nur Begeisterung. Abgesehen davon, dass die Idee, Babys etwas an den Kopf zu kleben, doch eher befremdlich ist, ging es dabei vor allem um das Motiv. Das besteht nicht zuletzt auch darin, ein Baby geschlechtlich zu markieren. Hydrick selbst war sich darüber im Klaren, dass sie eine Tochter hat, fand es aber anscheinend einen unhaltbaren Zustand, dass ihre Umwelt darüber nicht informiert war. Und sie mit der entsprechenden Frage belästigte: Junge oder Mädchen?! Also signalisierte sie mit dem angeklebten Schleifchen Eindeutigkeit.

Aber warum ist Mehrdeutigkeit so schwer auszuhalten? Warum frustriert es uns, wenn unser Kind für ein Mädchen gehalten wird, obwohl es ein Junge ist – und andersherum? Vielleicht haben Sie das, beispielsweise auf Spielplätzen, schon erlebt, vielleicht auch mit dem eigenen Kind? Die meisten Eltern berichtigen geschlechtsspezifische Ansprachen, die sie für falsch halten. "Ihre Tochter hat ja tolle lange Locken" wird zumeist umgehend korrigiert: "Es ist ein Junge." Warum ist das nötig? Was würde passieren, wenn wir es nicht tun? Wir könnten ja auch einfach abwarten, bis das Kind selbst fähig und willens ist, das richtigzustellen.

Aber irgendwie scheint die Verwechslung des Geschlechts der Kinder eine Beleidigung der Eltern darzustellen. So als wäre mit ihrem Nachwuchs irgendetwas falsch. Als hätten sie es versäumt, ihren Eindeutigkeitspflichten nachzukommen. Auch an dieser Stelle überbewerten wir die Geschlechtszuordnung. Das hat nichts Verspieltes, nichts von Ausprobieren oder Entdecken. Wenn sie groß sind, sollen unsere Kinder werden können, was sie wollen, aber jetzt, hier und heute, in diesem Sandkasten wird dem Opa da drüben klargemacht, welches Geschlecht das Kind hat. Nachher denkt der noch was Falsches. Mit geradezu verbissener Ernsthaftigkeit teilen wir die Welt in zwei Geschlechter ein. Da hilft es auch nicht, wenn wie bei Girlie Glue darauf hingewiesen wird, dass die Geschlechtszuschreibung nur ein Angebot sei und das Produkt auch für Jungen geeignet.

Lügen Sie sich nicht in die Tasche

Lassen Sie sich davon nicht täuschen, das ist der älteste Trick des Gender-Marketings überhaupt. Die Verpackung von Überraschungseiern ein bisschen pink einfärben, "nur für Mädchen" draufschreiben und anschließend behaupten, Jungen könnten das ja auch kaufen. Man müsse das alles ja nicht so ernst nehmen. Schon klar: Weil jede Art von Werbung vollkommen belanglos und irrelevant ist, nehmen die Konzerne jährlich Milliarden in die Hand, um sie entwickeln zu lassen und zu schalten. Weil Girlie Glue auch für Jungen sein kann, schreibe ich Girlie drauf. Was denn sonst?! Weil es uns ja "im Prinzip egal" ist, kleben wir Schleifchen auf kleine Mädchen.

Wenn Sie Ihre Jungen geschlechtergerecht erziehen wollen, ist es wichtig, sich möglichst nicht in die Tasche zu lügen. Darüber, dass man lange Haare bei Jungen ausschließlich ablehnt, weil man ihnen eigentlich nur etwas Gutes tun und sie vor Mobbing bewahren will. Selbstverständlich ist das ein gewichtiger, nicht zu unterschätzender Faktor. Zur Erinnerung: Die meisten Eltern wollen das Beste für ihr Kind und verabreden sich nicht diabolisch lachend zum nächtlichen Haareabsäbeln am Bett des Jüngsten, weil sie seine "Mädchenhaftigkeit" nicht mehr ertragen können. Trotzdem schützen sie damit auch ihre Vorurteile. Vorurteile sollten jedoch nicht gepflegt, sondern angetastet und von allen Seiten angeschaut werden. Gegebenenfalls braucht man sie nämlich gar nicht so dringend. Um Ihnen zu erklären, wie das zusammenhängt, brauche ich allerdings ungefähr noch eine Rocklänge Text. (Nils Pickert, 4.3.2020)