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Bei der Autophagie werden Zellabfälle isoliert und recycelt. Im Autophagosom (große Kugel) wird der zelluläre Müll gesammelt und dann einem Lysosom (orange) übergeben.

Illustration: Picturedesk / Science Photo Library / K. Kon

Die Umstellung ist jedes Mal wieder gewaltig. Soeben noch lief alles im Normalbetrieb, abertausende Moleküle führten ihr exakt durchchoreografiertes Ballett auf, und dann diese Eilmeldung: Krankheitserreger erkannt! Jetzt muss gehandelt werden.

Die Zelle geht sofort in den Verteidigungsmodus. Sie startet ihre Abwehrprogramme und stellt andere, nichtlebenswichtige Vorgänge vorübergehend ein. Ganze Batterien von Genen werden aktiviert oder in Ruhezustand versetzt.

Im Zellstoffwechsel macht sich das umgehend bemerkbar. Dutzende neue Proteintypen "rollen vom Band" und greifen in das Geschehen ein. Bald ist die biochemische Maschinerie komplett umgestellt.

Trotz des enormen Aufwands findet dieser Prozess praktisch ständig in jeder Pflanze und jedem Tier statt. Ob bei der Abwehr von Keimen, der Anpassung an wechselnde Umweltbedingungen oder beim schlichten Wachstum: Immer wieder müssen Zellen ihre Physiologie neu ausrichten. Eine wahre Sisyphusarbeit.

Für die Forschung werfen solche Vorgänge noch massenhaft Fragen auf – kein Wunder, bei dieser Komplexität. Während Experten auf dem Gebiet der Gensteuerung schon viele Einblicke gelangen, hinkte die Wissenschaft hinsichtlich des Stoffhaushalts selbst eher hinterher. Jetzt hat es auch hier einen kleinen Durchbruch gegeben.

Frühform der Immunabwehr

Offenbar spielen die zelleigenen Recyclinganlagen bei Neuprogrammierungen eine zentrale Rolle. Die Zerlegung und Wiederverwertung von ausgedienten Proteinkonstrukten, Enzymen und dergleichen bezeichnen Fachleute als Autophagie. Ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Wiener Gregor-Mendel-Instituts (GMI) der Akademie der Wissenschaften hat diesen faszinierenden Mechanismus genauer untersucht und seine Funktion unter wechselnden Bedingungen analysiert.

Die Autophagie geht wahrscheinlich auf eine Frühform der Immunabwehr zurück, sagt der GMI-Molekularbiologe Yasin Dagdas. "Es ist ein sehr altes System zur Fremderkennung." Alles, was nicht (mehr) in eine Zelle hineingehört, wird aufgespürt, isoliert und aufgelöst. Auch Ausrangiertes bekommt sogenannte "Iss mich"-Markierungen, zum Beispiel aus Ubiquitin, angehängt. Sie zeigen der intrazellulären Putztruppe, wo es Arbeit gibt.

Der Abbau an sich findet in durch Doppelmembranen abgegrenzten Bereichen des Zellinneren statt. In Tierzellen sind dies vor allem die Lysosomen, in Pflanzen die Autophagosomen.

Bei der tierischen Autophagie kommen oft spezielle Transportvehikel zum Einsatz. Diese Proteingebilde binden an die ausgemusterten Eiweißmoleküle, schleppen sie zu den Lysosomen und schleusen sie dort ein.

Pflanzenzellen kennen diese Form von Müllabfuhr nicht, wie Yasin Dagdas erläutert. "Die Autophagosomen entstehen immer an der Stelle, wo die Ladung ist." Mit anderen Worten: Jeder Abfallhaufen bekommt seine eigene, maßgeschneiderte Recyclingstation. Diese aufwendige Variante kommt auch bei Tieren vor, ist bei ihnen aber nicht das Standardverfahren.

Bloß keine Verschwendung

Das Hauptziel der Autophagie sahen Fachleute bislang in der Ressourceneffizienz. Die Natur verabscheut Verschwendung, fast alles Wiederverwertbare wird tatsächlich wiederverwertet. Mitochondrien zum Beispiel, die Hochleistungskraftwerke der Zellen, haben nur eine begrenzte Lebensdauer.

Ist das Ende gekommen, bekommt auch jeder dieser Kleinstgeneratoren einen Membransarkophag angelegt, in dem er anschließend komplett von Enzymen zerlegt wird. Die einzelnen Bausteine gehen zurück in den Zellsaft, das Zytosol, wo sie bald neue Verwendung finden.

Nun jedoch stellen Yasin Dagdas und seine Kollegen dem Recycling eine zweite, womöglich genauso wichtige Aufgabe zur Seite – eben die der Prozesssteuerung. Für ihre Versuchsreihe nahmen die Forscher Keimlinge des Acker-Schmalwands (Arabidopsis thaliana), eines beliebten Laborgewächses, und setzen diese verschiedenartigen Signalen aus.

Durch Zugabe des bakteriellen Peptids flg22 in das Gießwasser wurde den Pflänzchen eine Pathogenattacke vorgetäuscht. Auxin NAA wiederum steuert Wachstum, und Abscisinsäure gilt als Stresshormon. Insgesamt brachten die Wissenschafter acht solche höchst unterschiedliche Botenstoffe zum Einsatz.

Großputz nach der Umstellung

Das Ergebnis indes war jedes Mal praktisch das gleiche. Die Keimlinge fuhren ihre Autophagiesysteme hoch, was sich durch einen Anstieg in den Konzentrationen von Schlüsselsubstanzen nachweisen ließ. Jede Umstellung erfordert anscheinend einen begleitenden Großputz.

Die Hintergründe dieser Reaktion liegen eigentlich auf der Hand. Einmal produziert, verbleibt jedes Signalmolekül und jedes Enzym erst einmal im System und erfüllt dort ziemlich selbstständig seine Aufgaben. Gezieltes Abschalten ist schwierig.

Im Falle einer grundlegenden Umstellung des Zellstoffwechsels könnte es deshalb einfacher sein, die ganzen biochemischen Einheiten wieder einzusammeln und aufzulösen. Es ist, als würden die Zellen reinen Tisch machen, meint Yasin Dagdas. Nichts soll der reibungslosen Neuausrichtung im Weg stehen.

Chaos und Krebs

Was den Zellen ohne eine solche Tabula rasa dräut, konnten die Forscher ebenfalls aufzeigen. Das Team züchtete Mutantenpflänzchen mit defekter Autophagiemaschinerie und setzen sie wechselnden Stimuli aus.

Das Ergebnis bestätigte die Vermutungen: Die Keimlinge konnten nicht umschalten. Alte Stoffwechselprogramme blieben aktiv und behinderten die Anpassung an die veränderten Bedingungen. Auf Dauer, berichtet Yasin Dagdas, löst das Defizit absolutes Chaos aus. "Fast wie bei Krebszellen."

Die Studie der internationalen Arbeitsgruppe eröffnet Biologie und Medizin gleich mehrere neue Perspektiven. Störungen der Autophagie wurden bereits mit gravierenden Krankheiten wie Alzheimer, Morbus Crohn, Parkinson und vor allem Krebs in Verbindung gebracht.

Die Ursachen könnten in der mangelhaften Prozesssteuerung durch Abbau und Recycling liegen. "Wahrscheinlich ist die Autophagie bei sehr vielen zellulären Vorgängen im Spiel", sagt Dagdas. Weitere Einblicke werden hoffentlich bald folgen. (Kurt de Swaaf, 09.3.2020)