Aus dem "Moa" wurde längst der "Mai". Länger hielt sich die alte Form im "Moabam" – dem Maibaum. Dass in jedem Tal, in jedem Dorf eine eigene Dialektform gesprochen wird, kommt immer seltener vor.

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Bewohner alpiner Gegenden zeigen anhand ihres Dialekts offenbar höhere Ortsloyalität. Dennoch verschwinden in Österreich viele alte Formen. Gleichzeitig erodieren aber auch die Normen der – früher Hochsprache genannten – Standardsprache.

Der Salzburger Dialektforscher Hannes Scheutz ist an einer aktuellen Gesamterhebung dialektaler Formen in Österreich beteiligt. Er plädiert dafür, im Gespräch mit Kindern nicht zur Standardsprache zu wechseln. Ist Dialekt die Alltagssprache der Eltern, soll mit ihnen auch so gesprochen werden.

STANDARD: Die Alltagssprache verändert sich. Welche Entwicklungen sehen Sie in Österreich?

Hannes Scheutz: Generell gibt es rasante sprachliche Veränderungen von kleinräumigen, lokalen Formen hin zu großräumiger geltenden, überregionalen Formen. Vielfach finden Annäherungen an die Standardsprache statt. Das ist leicht im Wortschatz wahrzunehmen – althergebrachte Ausdrücke entfallen etwa mit nicht mehr aktuellen Tätigkeiten und Geräten. Andere Änderungen fallen dem Sprachnutzer weniger auf: etwa wenn die doppelte Verneinung im Dialekt – "er hod ka Göd ned" – verschwindet. Das hat wohl auch mit Schulnormen zu tun. Die Abwertung der Dialekte als mindere Sprachform hat eine lange Tradition. Die korrekte Ansicht, dass Dialekte vollwertige Sprachen mit geringerer Reichweite sind, hat sich nicht durchsetzen können.

STANDARD: Woher kommen neue Einflüsse?

Scheutz: Es gibt Wörter, die plötzlich modisch sind und sich durchsetzen. Paradigmatisch sieht man das an Grußformen wie "Hallo" oder "Tschüss", die es vor 20 Jahren in der heutigen Allgemeingültigkeit nicht gab. Schon bei Volksschülern ist zu bemerken, dass sie vehement das überkorrekt wirkende Präteritum anstelle des bisher üblichen Perfekts verwenden: "Ich ging" statt "I bin gongen". Es kommen vor allem durch Unterhaltungsmedien norddeutsche Aspekte herein, etwa wenn das "s" im Anlaut von "sagen" oder "sicher" stimmhaft gesprochen wird. Zudem breiten sich ostösterreichisch-wienerische Formen aus.

STANDARD: Welche sind das?

Scheutz: Die sogenannte Vokalisierung des "l" ist etwa eine lautliche Eigenschaft, die den mittelbairischen Dialektraum, der sich grob gesprochen von München bis Wien zieht, besonders prägt. Das "l" wird dabei zum Vokal, wie das in "Schui" für "Schule" oder "Woid" für "Wald" zu beobachten ist. Davor stehende Vokale verändert sich mit, etwa in "spün" für "spielen" oder "stön" für "stellen". Die alten Salzburger Formen wie "spiin" für "spielen" und "sten" für stellen wurden hier bereits von der ostösterreichischen Form weggefegt. So geht es in vielen Dingen. Ein anderes Beispiel ist die Ausbreitung des ostösterreichisch-wienerische "a": Aus "hoaß" in der Bedeutung "heiß" wird "haß" – auch das reichtmittlerweile mindestens bis Salzburg.Eine weitere Entwicklung ist die Wiener Monophthongisierung, bei der von einer standardsprachlichen Form ausgehende Zwielaute zu Einfachlauten werden.

STANDARD: Zum Beispiel?

Scheutz: Beispiele sind "weiß" oder "heiß", die zu "wäß" oder "häß" werden. Aus "ei" wird "ä", aus "au" wird "o" wie in "Des glob i ned". Es ist eine Sprachentwicklung, die vor etwa 100 Jahren das erste Mal als Eigenschaft der "Unterstandslosen" beschrieben wurde. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich Formen sowohl durch alle Gesellschaftsschichten als auch räumlich ausbreiten. Die Entwicklung deutet auch auf ein verdecktes Prestige der Hauptstadt hin: Man mag das Wienerische vielleicht nicht, aber man übernimmt die Formen dennoch.

STANDARD: Dass sozial schwächere Schichten der Ursprung neuer Formen sind – ist das ein häufiges Phänomen?

Scheutz: Es gibt beides: den Wandel von oben, bei dem man Dinge nachahmt, um sich höheres Prestige zu geben, wie auch den Wandel von unten, wobei sich besonders artikulatorisch einfachere Formen häufig durchsetzen. Wenn ich kein "ai" mehr ausspreche, sondern den Kompromisslaut "ä", ist das rein artikulatorisch betrachtet eine Vereinfachung. Öfter kommen solche Formen aus sozialen Gruppen, denen weniger Prestige zugesprochen wird.

STANDARD: Wie breiten sich neue Formen aus?

Scheutz: Man kommuniziert heute einfach viel mehr überregional. Natürlich trägt auch der Medienkonsum bei, der häufig Norddeutsch, in geringere,m Umfang auch auch wienerisch-ostösterreichisch geprägt ist. Die Veränderungen breiten sich entlang sozialer Netzwerke aus, wobei ich damit aber nicht Whatsapp und Konsorten meine. Alle Menschen sind in verschiedenen Freundesgruppen und beruflichen Kontexten vernetzt und lernen dort neue Formen kennen oder geben diese weiter. Die sozialen Medien im Internet werden relevanter für die Ausbreitung, sobald nicht nur schriftliche, sondern auch akustische Kommunikation erfolgt – etwa in selbstaufgenommen Videoclips. Den früher vielleicht in kleinen Ortschaften noch anzutreffenden monolingualen Sprecher, also ein Mensch ,der nur eine Varietät der Sprache – den Dialekt – kennenlernt und verwendet, gibt es de facto nicht mehr. Gleichzeitig nehmen auch die Normen der Standardsprache, früher "Hochsprache" oder "Schriftdeutsch" genannt, ab.

STANDARD: Welche Gründe gibt es dafür?

Scheutz: Grundsätzlich ist eine homogene "Hochsprache" eine Fiktion. Auch wenn ein professioneller Sprecher Standardsprache spricht, hört man, ob er aus Halle, München oder Wien kommt. Angemessener wäre es, von einem "Gebrauchsstandard" auszugehen – wie er in formelleren Situationen verwendet wird. Das Normverständnis hat sich gewandelt. Wenn sowohl die kleinregionale Form aufgegeben wird, aber auch die allgemeine Hochsprachennorm erodiert, hat das zur Folge, dass man sich in einer mehr oder weniger breiten Mittellage dazwischen trifft. Die Spitzen nach unten und oben fallen weg.

STANDARD: Offensichtlich hängen die Tiroler stärker an ihrem Dialekt als etwa Niederösterreicher. Lässt das auf eine ausgeprägtere regionale Identität schließen?

Scheutz: Es stimmt, dass man derartige Phänomene beobachten kann. Ein Beispiel dazu: Wenn ich in der Feldforschung im alpinen Raum Dialektsprecher aufnehmen möchte, gibt es genug Leute, die stolz drauf sind, dass sie als authentische Gewährspersonen herangezogen werden. Will man dagegen etwa in Niederösterreich aufnehmen, wird das von potenziellen Interviewpartnern nicht selten mit dem Hinweis abgelehnt, dass sie nicht Dialekt sprechen würden – auch wenn erkennbar das Gegenteil der Fall ist. Ich denke schon, dass man solche unterschiedlichen Einstellungen durchaus auf unterschiedliche Intensitäten von Ortsloyalität zurückführen kann.

STANDARD: Mit vielen Dialekten geht ein bestimmtes Image einher. Manche werden als weniger schön wahrgenommen. Trägt diese Imagebildung zum Verschwinden eines Dialekts bei?

Scheutz: Dialekte haben insofern ein Imageproblem, als sie traditionellerweise mit Bildungsferne assoziiert werden. Das Herabblicken auf das regional Eingefärbte hat eine lange Tradition. Einen besonderen Tiefpunkt gabe es in den 1960er und 1970er Jahren , als eine Gruppe britischer Soziologen der dortigen Unterschicht einen "restringierten Code" attestierte, der auf weniger komplexes und elaboriertes Denken zurückschließen lasse. Im deutschen Raum identifizierte man das reflexartig mit den Dialekten, was den Irrglauben zur Folge hatte, dass man den Kindern in der Schule den Dialekt austreibenmüsse. Es geht aber nicht darum, Dialekt und Standardsprache gegeneinander auszuspielen: Beides ist wichtig – der Dialekt als "Sprache der Nähe", die Standardsprache als überregionales Kommunikationsmedium. Und selbstverständlich sollte in der Schule die Standardsprache gelernt und verwendet werden. Darüber hinaus sollte man sich von Normvorgaben aber nicht allzu sehr einschüchtern lassen.

STANDARD: Es gibt auch Dialekte, die als besonders nett und sympathisch gelten?

Scheutz: Es gibt eine Beliebtheitsskala der deutschen Dialekte, auf der etwa das Bairische oder Wienerische auf Spitzenplätzen zu finden sind. Meist ist das aber eher eine anekdotische Dialektliebe: Man findet die Sprachform zwar nett, aber selbst würde man sie dann doch nicht sprechen. Vom Prinzip her ähnelt es dem Greißlersterben – alle finden die Greißler toll, gehen aber in den Supermarkt einkaufen.

STANDARD: Seit den 1990er-Jahren lässt sich ein Trend erkennen, dass – wohl als Gegenbewegung zur Globalisierung – Regionales wieder stärker betont wird. Selbst in Fernsehwerbungen kommen wieder Dialekt-Anklänge vor. Kann das die sprachliche Veränderung etwas bremsen?

Scheutz: Das glaube ich nicht. Das ist so wie mit den Trachten: Leute, die nie einen Bezug dazu hatten, ziehen nun Pseudotrachten an. Es ist aber nicht mehr wie früher eine regionale Alltagskleidung, sondern ein völlig inhaltsleerer Modetrend. Genauso ist der Pseudodialekt im TV vielleicht ein origineller Aspekt, kann aber das Verschwinden der Dialekte nicht bremsen.

STANDARD: Sie sind an der vom Wissenschaftsfonds FWF unterstützten Initiative "Deutsch in Österreich", die Projekte an den Unis Wien, Salzburg und Graz umfasst, beteiligt. Was untersuchen Sie?

Scheutz: In unserem Salzburger Projektteil erheben die gegenwärtigen dialektalen Formen. Um beispielsweise die Sprache in Zams in Tirol und Deutsch-Wagram in Niederösterreich vergleichen zu können, muss man den Sprechern jeweils einen umfangreichen Katalog von gleichen Fragen vorgeben. Also etwa: Wie wird das Wort "Knecht" oder der Satz "Das hat mir nicht gefallen" da und dort ausgesprochen? Die Dialektologie hat sich bisher oft auf das Lautliche und auf landwirtschaftliche Randbereiche des Wortschatzes konzentriert. Dies hat insofern eine innere Logik, als sich althergebrachte Lautstände in konservativen Wortschatz-Nischen länger erhalten. Ein simples Beispiel dafür wäre etwa der Monat Mai, dessen alte Form "Moa" heutzutage oft nur noch im "Moabam" für "Maibaum" bestehen blieb. Wir haben diese traditionellen Fragebücher entrümpelt und uns auch auf die bisher weitgehend vernachlässigten Bereiche Grammatik, Satzbau und Wortformen konzentriert In einer ersten Tranche haben wir 40 Orte in Österreich ausgewählt und dort jeweils zwei jüngere und zwei ältere Sprecher befragt, um Entwicklungen abschätzen zu können. In einer zweiten Tranche kommen noch einmal 100 Orte dazu.

STANDARD: Apropos Jüngere: Soll man mit Kindern Standardsprache sprechen, um sie besser auf die Schule vorzubereiten?

Scheutz: In Kindergärten hier in der Stadt Salzburg sprechen viele Kinder norddeutsch beeinflusstes Standarddeutsch, deren Eltern dagegen die übliche dialektal beeinflusste Umgangssprache. Dass Eltern ihre Kinder vor dem Dialekt bewahren wollen, halte ich aber für absurd. Meist sind die Kinder schon allein durch den Medienkonsum an die Standardsprache herangeführt. Was fehlt, lernen sie in kürzester Zeit. Im Normalfall erwächst durch Dialekt keinem Kind ein Nachteil. Im Gegenteil: Je variantenreicher die Sprache der Kinder geformt wird, desto besser ist das für ihre kognitive Entwicklung: Die "innere Mehrsprachigkeit" sollte das Ziel sein. Ich hoffe, dass die Normarroganz in der Schule verschwindet. Selbst die Separierung von Kindern mit anderer Muttersprache – aus Angst, sie würden die Entwicklung Deutsch sprechender Kinder bremsen, ist wissenschaftlich nicht haltbar. (Alois Pumhösel, 7.3.2020)