Es braucht mehr Aufklärung über Gewichts-Stigmatisierung und den Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Gewichtsregulierung in der Allgemeinbevölkerung und in Gesundheitsberufen, sagen Experten.

Foto: Getty Images/istockphoto.com

Im Zeitalter der Fitness gelten stark übergewichtige Menschen als willensschwach und faul, häufig werden sie auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert. Das zeigen Studien aus den USA und Großbritannien. In Österreich ist die Datenlage dazu noch sehr lückenhaft, bislang gibt es erst eine qualitative Untersuchung über die Diskriminierung hochgewichtiger Frauen im Gesundheitsbereich.

Anlässlich des Welt-Adipositas-Tages am 4. März fordert nun ein internationales Gremium aus 36 Experten, die soziale Stigmatisierung adipöser Menschen zu beenden. Oft würden sie als "faul" und "disziplinlos" wahrgenommen, was nicht zuletzt auch ihren Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung beeinträchtigt, schreiben die Autoren des Berichts, der im Fachjournal "Nature Medicine" erschienen ist.

Komplexes Zusammenspiel mehrerer Faktoren

Es sei nur eine Frage der Willenskraft, Übergewicht loszuwerden, lautet eine verbreitete Meinung. Deshalb wird adipösen Menschen oft unterstellt, es fehle ihnen an Selbstkontrolle und Disziplin. Das entspricht jedoch nicht dem heutigen Kenntnisstand der Forschung: Gewichtsregulation ist demnach weniger eine Willenssache, sondern hängt häufig primär von biologischen, genetischen und umweltbedingten Faktoren ab.

Als Ursachen für Hochgewicht oder Adipositas werden unter anderem genetische Faktoren und psychische Einflüsse wie Stress, Einsamkeit und Depressionen angenommen. Auch einige Krankheiten können zu Adipositas führen, etwa eine Schilddrüsenunterfunktion, das Cushing-Syndrom (Überproduktion von Cortisol) oder Hirntumore. Demnach ist Adipositas meist ein komplexes Zusammenspiel von genetischer Disposition, psychischen Komponenten und Lebensstilfaktoren wie unausgewogener Ernährung und mangelnder körperlicher Bewegung.

Frauen häufiger als Männer diskriminiert

Vorurteile gegenüber stark übergewichtigen Personen können ihren Beschäftigungsstatus, aber auch ihren Zugang zu und die Qualität von Gesundheitsversorgung und Bildung beeinträchtigen, warnt das internationale Expertengremium um Francesco Rubino vom King's College London. Je stärker ausgeprägt das Übergewicht sei, desto stärker falle auch die Diskriminierung aus, die Betroffene erfahren. Zudem trifft sie Frauen häufiger als Männer. Kinder und Jugendliche mit Übergewicht leiden oft unter Mobbing, was schwere psychische Folgen haben kann.

Zu den Gesundheitsrisiken, die sich durch Übergewicht und Fettleibigkeit ergeben, kommen Risiken durch die Stigmatisierung. Leidet die psychische Gesundheit, kann dies die Betroffenen unter anderem zu einer ungesunden Ernährungsweise und körperlichen Inaktivität führen. Das wiederum lässt sie weiter zunehmen, die Betroffenen geraten in einen regelrechten Teufelskreis.

Fehlerhafte Diagnosen

Insbesondere die Darstellung von Übergewicht in den Medien befeuere Vorurteile, hält das Gremium fest. Stigmatisierende Sprache und Bilder gelte es demnach zu vermeiden. Auch bei Gesundheitspersonal sind dem Expertengremium zufolge Vorurteile gegenüber Übergewichtigen stark verbreitet, was die Versorgung hochgewichtiger Menschen nachweislich beeinträchtigt. So berichten Betroffenen, dass oft Jahre vergehen, bis sie die richtige Diagnose von Krankheiten erhalten, da die behandelten Hausärzte die körperliche Verfassung primär auf das Gewicht der Patienten reduzieren.

Die Autorinnen und Autoren empfehlen unter anderem mehr Aufklärung über Gewichts-Stigmatisierung und den Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Gewichtsregulierung, sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Gesundheitspersonal. Den Appell unterzeichneten mehr als 100 Organisationen, Institutionen, Gesellschaften und Fachjournale.

Etwa 13 Prozent der Menschen weltweit gelten als adipös, sie haben einen Body-Mass-Index (BMI) von mehr als 30. Seit 1980 hat sich die Prävalenz der Adipositas beinahe verdoppelt. Damals waren fünf Prozent der Männer und acht Prozent der Frauen betroffen. Allerdings ist der BMI ein relativ ungenaues Maß zur Unterscheidung von normal- und übergewichtigen Menschen, da er nicht zwischen Körperfett- und Körpermagermasse unterschiedet, was etwa bei muskulösen oder älteren, muskelschwächeren Menschen zu Fehleinschätzungen führen kann. Außerdem wird die Verteilung des Fettgewebes an den jeweiligen Körperstellen nicht berücksichtigt. (red, 4.3.2020)