Nuno Maulide, Tanja Traxler, "Die Chemie stimmt! Eine Reise durch die Welt der Moleküle". € 22 / 208 Seiten. Residenz-Verlag, Wien/Salzburg 2020

Was essen Sie gerne zum Frühstück? Wenn es morgens ganz schnell gehen muss, empfiehlt sich ein einfacher kulinarischen Start in den Tag. Zum Beispiel Wasser, Zucker, ein klein wenig Eiweiß und Fett, dazu verschiedene Ester, Aldehyde und Alkohole. Außerdem noch etwas Riboflavin, Ascorbinsäure, Kalzium, Magnesium, Phosphor und Chlor. Zusammen ergibt das alles einen schmackhaften Snack, ganz ohne Zubereitungszeit: einen Apfel.

Ohne die Auflösung im letzten Satz klingt ein solches Frühstück für viele Menschen nach purem Gift. Chemie hat in der Bevölkerung nicht den besten Ruf. Umweltverpestende Unfälle in Chemiefabriken, Treibhausgase in der Atmosphäre oder krebserregende Chemikalien im Essen haben das Image des Forschungsfelds nachhaltig beschädigt. Das einseitige Bild ist bedauerlich, werden doch oft die positiven Beiträge der Chemie für unser Leben vergessen: Sie ermöglicht beispielsweise die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung durch die Entwicklung künstlicher Düngemittel ebenso wie die Herstellung von Medikamenten, Kunststoffen oder Hygieneprodukten.

Schädliche Chemikalien?

Chemie leistet wertvolle Beiträge zur Lösung gesellschaftlicher Zukunftsfragen – im Großen wie im Kleinen. Von einem besseren Image der Chemie würden nicht nur Wissenschafter profitieren, sondern die Gesellschaft im Allgemeinen. Denn chemisches Un- oder Halbwissen führen bisweilen zu Entscheidungen, die für den Einzelnen oder gar für uns alle nachteilig sind: Das beginnt bei der Wahl unserer Lebensmittel und endet mit der Frage, wie wir ein nachhaltigeres Leben führen könnten, ohne unseren Planeten zu zerstören.

Zugegeben: Die unglaubliche Vielzahl an chemischen Stoffen und Verbindungen, die uns und unsere Welt ausmachen, kann einen leicht überwältigen. Wie soll man angesichts von so viel Chemie noch den Überblick behalten, was unserer Gesundheit und unserer Umwelt guttut und was schädlich ist? Das gilt geradezu beispielhaft, wenn es um unser Essen geht – die Furcht vor schädlichen Nahrungsmitteln ist vermutlich so alt wie der Mensch selbst. Diese evolutionär begründete Angst ist überlebenswichtig, zugleich leistet sie auch vielen Irrtümern und Mythen Vorschub.

Die Vorstellung, dass Chemikalien im Essen per se unnatürlich und zwangsläufig ungesund sind, ist erstaunlich weit verbreitet. Für Chemikerinnen und Chemiker stellt sich die Sache grundlegend anders dar: Chemikalien in Nahrungsmitteln zu verteufeln ist allein schon deswegen unsinnig, weil Nahrungsmittel, wie alles andere auch, einzig aus chemischen Verbindungen bestehen. Der erwähnte Frühstücksapfel lässt sich von der Schale bis zum Kern in chemische Bestandteile zerlegen. Würde man all diese Bestandteile im Labor künstlich erzeugen und in der gleichen Menge zu sich nehmen, in der sie in einer Frucht vorkommen, wäre das Ergebnis für den Körper exakt dasselbe.

Wasser, Zucker, Eiweiß, Fett Riboflavin, Ascorbinsäure, Kalzium, Magnesium, Phosphor und Chlor verschiedene Ester, Aldehyde und Alkohole – so stellt sich ein Apfel aus Sicht eines Chemikers dar.
Foto: APA/BARBARA GINDL

Die Dosis macht das Gift

Das soll natürlich nicht heißen, dass jede chemische Verbindung gesund für uns ist. Die Europäische Union listet rund 8000 Substanzen, die Lebensmittel potenziell gefährlich machen. Dazu zählen Schädlingsbekämpfungsmittel ebenso wie manche Farb- und Aromastoffe, Tiermedikamente oder Plastik. Für die allermeisten Inhaltsstoffe, die in unseren Nahrungsmitteln zu finden sind, gilt allerdings das, was der Schweizer Arzt Theophrastus Bombast von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus, im 16. Jahrhundert so treffend auf den Punkt gebracht hat: "Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei."

Viele Menschen betrachten argwöhnisch künstlich erzeugte Konservierungsmittel und Aromastoffe, die auf der Rückseite von Lebensmittelverpackungen angeführt sind, und versuchen, diese tunlichst zu vermeiden – auch wenn sie keine nachweislichen Gesundheitsrisiken darstellen. Andererseits scheuen sie nicht davor zurück, Substanzen, die erwiesenermaßen schädlich sein können, etwa Alkohol, Transfette oder Zucker, üppig zu konsumieren. Die Vorstellung, zu Urgroßmutters Zeiten wären Lebensmittel noch gesünder – weil natürlicher – gewesen, lässt sich leicht widerlegen: Noch nie war unsere Versorgung so gut wie heute, sowohl was den Zugang zu Nahrung betrifft als auch was ihre Sicherheit angeht. Die Entwicklung künstlicher Düngemittel, Konservierungsstoffe, Verpackungsmaterialien und Hygieneverfahren zählen zu den großen Errungenschaften der Chemie.

Mehr Chemie ist nicht immer die beste Lösung, aber es gibt auch sehr viele Beispiele, wo sie unserer Gesundheit und dem Planeten Gutes tun kann. Das hat nichts mit blinder Wissenschaftsgläubigkeit zu tun, die alles, was aus einem Labor stammt, als höherwertig einstuft als naturbelassene Produkte. Im Gegenteil geht es in unserem Buch darum, ein grundlegendes Verständnis für chemische Prozesse und ihre Nutzbarkeit zu vermitteln, damit man sachlich abwägen kann, in welchen Bereichen mehr Chemie sinnvoll ist und in welchen nicht.

Der gebürtige Portugiese Nuno Maulide ist seit 2013 Professor für Organische Synthese an der Universität Wien und Wissenschafter des Jahres 2018.
Foto: Corn

Jenseits von Gut und Böse

Geht es etwa um die Pharmazie, liegt die Sache auf der Hand: Viele von uns wären ohne Medikamente nicht mehr am Leben. Der beeindruckende Anstieg der Lebenserwartung in den vergangenen Jahrzehnten ist wesentlich auf Entdeckungen von Chemikern und Chemikerinnen zurückzuführen. Dabei zeigt sich auch besonders schön, dass Chemie und Natur nicht im Widerspruch zueinander stehen: Die wichtigste Inspirationsquelle bei der Suche nach neuen Wirkstoffen sind Naturstoffe, also Substanzen, die natürlicherweise in Pflanzen, Tieren oder Pilzen vorkommen.

Dass wissenschaftliche Entdeckungen per se weder gut noch böse sind, kann man gut an einer anderen revolutionären Erfindung aus der Chemie nachvollziehen, die schon lange nicht mehr wegzudenken ist: Plastik. Die Entwicklung von billigen, vielseitig einsetzbaren Kunststoffen ermöglichte unzählige wichtige Innovationen und verbesserte den Lebensstandard der Menschen. Doch der größte Nachteil von Plastik hat ausgerechnet mit einem seiner Vorzüge zu tun: Es ist äußerst langlebig, und die Menschheit hat es inzwischen geschafft, gigantische Plastikmüllberge anzuhäufen, die eine große Umweltgefahr darstellen.

Chemikerinnen und Chemiker arbeiten fieberhaft an Lösungen – und es gibt schon einige interessante Ansätze, wie man Plastik wieder in seine Einzelteile zerlegen und zu anderen Molekülen zusammensetzen könnte. Der große Durchbruch steht noch aus. Aber die chemische Forschung schläft nicht. (Nuno Maulide, Tanja Traxler, 8.3.2020)