Schieles Gemälde "Vier Bäume" (1917), seit 1943 im Bestand des Belvedere.

Belvedere

Es ist eine melancholische Hymne an die Natur, für die Egon Schiele 1917 vier Kastanienbäume in herbstlichem Gewand vor einem prachtvollen Abendrot in Szene setzte, in einer symmetrischen Reihung, die entfernt an Ferdinand Hodler erinnern mag. Dieser Himmel, dieses durch horizontale Linien gegliederte Farbenmeer ist atemberaubend. Eine, wenn nicht die schönste Landschaft im Œuvre des Künstlers, urteilen Experten. Noch kann man das Gemälde im Belvedere bewundern, jedoch sind die Tage dafür gezählt.

1923 bezogen Josef und Alice Morgenstern ihre vom Architekten Otto Bauer gestaltete Wohnung: Egon Schieles Landschaftsgemälde platzierte man im Musikzimmer über dem Kamin.
Foto: Belvedere

Am Freitag wird sich der Kunstrückgabebeirat in seiner 95. Sitzung mit diesem in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Fall befassen. Ein im Zuge der systematischen Provenienzforschung der Bestände im Belvedere erstelltes Dossier liegt schon seit 2003 vor. Warum der Beirat erst jetzt darüber berät, hat einen simplen Grund: Aufgrund einer mehrjährigen Lücke in der Chronologie war eine Entziehung in der NS-Zeit bisher nicht zweifelsfrei belegbar. Nun fand sich der fehlende Puzzlestein, womit eine Empfehlung für die Rückgabe absehbar wird.

Wie das Bild ins Belvedere gelangte

Als sich 2018 Egon Schieles Tod zum 100. Mal jährte, widmete das Belvedere den hauseigenen Werken eine Ausstellung: "Egon Schiele – Wege einer Sammlung" (Oktober 2018 – Februar 2019) beleuchtete einerseits die Sammlungsgenese und andererseits Hintergründe zu den Bildern. Damit rückten auch Zugänge und Ankäufe, die einen Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus aufweisen, in den Mittelpunkt.

Dazu gehörte das Vier Bäume betitelte Gemälde, das 1943 unter Direktor Bruno Grimschitz für 8000 Reichsmark angekauft worden war. Im Ausstellungskatalog thematisierte man erstmals die bis dahin erforschten Fakten bezüglich der Herkunft. Demnach war ein Kunsthändler namens Paul Wengraf der Erstbesitzer, dann gelangte das Bild über die Wiener Galerie Nebehay in den Besitz eines gewissen Josef Morgenstern. Dieser war im Bankgeschäft sowie in der Stahl- und Röhrenbranche tätig und zu einigem Vermögen gelangt.

1922 hatte er ein Mietshaus in Wien-Wieden erworben und beauftragte den Architekten und Loos-Schüler Otto Bauer mit der Ausstattung jener Wohnung, die er im April 1923 gemeinsam mit seiner Ehefrau Alice bezogen hatte. Im Jahr darauf publizierte die deutsche Zeitschrift Innen-Dekoration zahlreiche Aufnahmen des Interieurs: Jene des Musikzimmers zeigt zweifelsfrei das Schiele-Gemälde über dem Kaminsims hängend. Neben diesem historischen Dokument ist Morgenstern weiters als Leihgeber in der Gedächtnisschau im Hagenbund 1928 erwiesen. 1930 führt ihn Otto Kallir-Nirenstein in seinem Werkverzeichnis als Eigentümer an. Danach verlor sich die mit dem Schicksal der Morgensterns verknüpfte Spur des Gemäldes bis zum Ankauf der Kunsthandlung L. T. Neumann (Wien) durch das Belvedere 1943.

Flucht nach Brüssel

Wie tausende jüdische Familien entschieden sich auch Josef und Alice Morgenstern nach dem "Anschluss" im März 1938 zu flüchten. Im August emigrierten die beiden vorerst nach Jugoslawien auf die Insel Korcula. Mit einem Visum gelang ihnen die weitere Flucht nach Brüssel.

Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien wurde Josef Morgenstern als "feindlicher Ausländer" verhaftet und in Frankreich interniert. Im September 1942 wurde er mit dem Transport Nummer 30 aus dem Durchgangslager Drancy nach Polen deportiert und 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Alice überlebte als "U-Boot" in Brüssel und verstarb dort völlig verarmt 1970.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie beim "Hilfsfonds für politische Verfolgte" eine Unterstützung beantragt. Eine Suche nach den Kunst- und Luxusgegenständen, die wie die Vier Bäume auf historischen Fotoaufnahmen erkennbar sind und deren Wert in der Vermögensanmeldung vom Juli 1938 mit 3000 Reichsmark beziffert worden war, ist nicht überliefert. Ein jüngst in einem Archiv aufgefundenes Dokument liefert dazu einen Hinweis und belegt, dass das Ehepaar 1938 noch im Besitz des Schiele-Gemäldes war.

Die Morgensterns hatten es, wie vermutlich auch andere Gegenstände, einem befreundeten Rechtsanwalt zur Aufbewahrung überlassen, der sich 1943 zur lukrativen Verwertung entschied. Der gegenwärtige Wert des Gemäldes dürfte um die 30 Millionen Euro liegen. (Olga Kronsteiner, 4.3.2020)