Über ein dreiviertel Jahrhundert nach den schrecklichen Kriegsverbrechen und Gräueltaten der Nationalsozialisten scheinen wir unsere Lehren aus einer der dunkelsten Epochen der Geschichte gezogen zu haben. Jedoch was haben wir wirklich 75 Jahre nach Auschwitz gelernt? Haben wir uns weiterentwickelt oder haben sich Abwertungen anderer Menschen nur auf andere Ebenen hin verschoben? Eines steht aber weiterhin fest: wenn der einzelne Mensch zum Objekt gemacht wird, ist die Grenze zur Entmenschlichung überschritten. Denn nicht nur manifester oder latenter Antisemitismus sind weiterhin elementare Probleme unserer Zeit sondern ebenso zunehmend die Polarisierung zwischen unterschiedlichen Wert- und Weltbildern. Klischees und banale Kategorisierungen führen zu falschen Feindbildern, was wiederum zu Extremismus jeglicher Art führen kann. Die Projektion mancher sagt mehr über den Überbringer einer Botschaft aus als über den Wahrheitsgehalt der getätigten Anschuldigung. Es gibt nicht die "Moslems", die "Rechten" oder die "Linken", sondern Gruppierungen bestehen aus Individuen. Hinter jedem Menschen steckt eine individuelle Entwicklungsgeschichte und prägende Ereignisse, die diesen zu jenem gemacht haben, der er heute ist.

teardown1966

Fallstudie Horst Mahler: Von der RAF zum Neonazismus

Ein Beispiel für die vielschichtige Genese, die eine Person durchleben kann, ist der einstige APO-Anwalt und das spätere Mitglied der Rote Armee Fraktion (RAF) Horst Mahler, der schlussendlich seine politische Heimat im rechtsextremen Milieu fand. Vom schlagenden Burschenschafter, zum SPD Mitglied, zur RAF, zum zeitweisen NPD Mitglied bis hin zur Holocaustleugnung reicht Mahlers ideologische Bandbreite. Ein anderes Beispiel menschlicher Entwicklung stellt der einstige Weggefährte Mahlers im Sozialistischen Deutschen Studentenbund Rudi Dutschke dar. Dieser blieb seiner politischen Gesinnung treu, jedoch überwand er ideologische Grenzen indem er mit seinem rechtsextremistischen Attentäter Josef Bachmann in einen Dialog trat. Dutschke war fernab seines Nimbus als wortgewaltiger linker Studentenanführer ein gläubiger und hochsensibler Mensch. In vielen Fällen können Ideologien niedrige Triebmotive repräsentieren aber auch den Willen zur Weiterentwicklung und konstruktiven Kommunikation, der im Zentrum der Bemühungen für eine bessere Gesellschaft stehen sollte.

Banalität des Bösen

Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher saß nach dem unmenschlichen Vernichtungskrieg die restliche Führungsspitze des dritten Reiches auf der internationalen Anklagebank. In ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" beschrieb die politische Theoretikerin Hannah Arendt den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann als normalen Menschen, der psychisch normal und kein "Dämon oder Ungeheuer" gewesen sei. So waren ebenfalls die anderen Personen auf der Anklagebank keine offensichtlichen Monster oder Bestien, sondern stellten die beschriebene Manifestation der Banalität des Bösen dar. Mehrere Jahrzehnte danach ist es einfach, auf die nachweislich Bösen, vom biederen Heinrich Himmler über den rhetorisch versierten Einpeitscher Joseph Goebbels bis hin zum überdurchschnittlich intelligenten kunstaffinen Hermann Göring, zu zeigen und in deren Naturell, den autoritären Charakter frei nach dem Psychoanalytiker Erich Fromm, zu entdecken. Wo aber sind die Facetten derart verdrängter destruktiver Triebmotive in uns selbst?

Gnothi seauton - Erkenne dich selbst

Als autoritären Charakter definiert Fromm ein Muster von Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmalen, welche das Sozialverhalten negativ - beispielsweise durch Vorurteile anderen gegenüber, Konformität und übertriebenen Gehorsam gegenüber Autoritäten sowie Destruktivität - beeinflussen. Die Unterwürfigkeit in Bezug auf Autoritätspersonen, Zerstörungslust und auch Überangepasstheit sind in diesem Kontext Kernparameter, der von ihm beschriebenen Typologie. Man darf es sich allerdings nicht zu einfach machen und die Bestie ausschließlich im anderen identifizieren, denn es geht darum, unsere eigenen, in andere projizierten negativen, Anteile zu erkennen. Niemand wird als Monster geboren und das Gen des "Bösen" konnte bis dato ebenso wenig entschlüsselt werden. Wie die Geschichte jedoch zeigt, ist derjenige, der in der Gegenwart anderen die Zukunft verbaut selbst bald Vergangenheit. (Daniel Witzeling, 12.3.2020)

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