Mit erhobenem Kinn zieht Pamela Rendi-Wagner in den Kampf um ihr Amt: Eine identitätsstiftende Führungsfigur, wie sie die ÖVP hat, ist in der SPÖ nicht in Sicht.

Foto: APA/Helmut Fohringer

Das Kinn erhoben, trotz aller Kritik: So präsentiert sich Pamela Rendi-Wagner zum Auftakt der viel diskutierten Mitgliederbefragung in der SPÖ. "Ja, ich will es wissen", sagt die amtierende Parteichefin und hält ein Plädoyer für mehr Mitsprache der Basis. Sie wolle jenen eine Stimme geben, die sonst überhört werden, erläutert Rendi-Wagner: "Fürchten wir uns nicht davor!"

Ab Mittwoch darf sie mit Antworten rechnen. Von 4. März bis 2. April dauert die Befragung, an der rund 160.000 SPÖ-Mitglieder per Post oder Internet teilnehmen können. Es geht dabei nicht nur um das Schicksal der Vorsitzenden, die nach ihrem Verbleib an der Parteispitze fragen lässt. In der Debatte um Rendi-Wagner geht unter, dass der Anlass ein anderer war: Die Befragung sollte Teil eines "Erneuerungsprozesses" sein, der am 25. April in einen Zukunftskongress mündet.

Doch keine No-na-Fragen

Die Genossen dürfen deshalb auch bewerten, wie wichtig ihnen diverse inhaltliche Ideen sind – vom Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung bis zur jährlichen Klimaschutzmilliarde, von der Pflege als öffentlicher Leistung bis zur verlustfreien Pension nach 45 Arbeitsjahren. Alles No-na-Fragen, die jeder Sozialdemokrat ungeschaut abnickt? "Das sehe ich anders", sagt Maria Maltschnig, denn schließlich werde nicht nach Ja oder Nein, sondern nach der Gewichtung gefragt: "Wir wollen Schwerpunkte setzen, und da hilft es zu wissen, für welche Themen sich die Mitglieder begeistern und sich Sonntagfrüh mit Flyern vor eine U-Bahn-Station stellen." Eine Partei könne ja nicht ständig 20 Ideen gleichzeitig bewerben.

ORF

Maltschnig ist rote Chefvordenkerin. Die 34-Jährige leitet nicht nur das Renner-Institut, die vom biedermeierlichen Vorstadtschlössl ins glasfassadendominierte Hauptbahnhofviertel übersiedelte Parteiakademie, sondern ist mit der Gewerkschafterin Barbara Teiber und Bildungssprecherin Sonja Hammerschmid auch für die sogenannten "Zukunftslabore" zuständig. In diesen Debattenzirkeln, verheißt die SPÖ-Homepage, sollen "ganz neue Ideen und Konzepte" sprießen.

Das fehlende Narrativ

Im STANDARD-Gespräch will Maltschnig da allerdings ein Missverständnis ausräumen. Dass die Partei keine Antwort auf brennende Probleme habe, hält sie schlicht für eine Mär: "Die SPÖ hat in den letzten drei Jahren fünf Programme geschrieben, da ist viel Substanz vorhanden. Gehen wir morgen in die Regierung, wüssten wir, was wir tun." Statt immer weiter an den einzelnen Kapiteln herumzutüfteln, "müssen wir uns stärker mit der Einleitung und der Conclusio auseinandersetzen, also mit den Werten und der Vorstellung von Gesellschaft".

Sozialdemokratische Vordenkerin Maria Maltschnig: Auf die Frage, warum es die SPÖ braucht, falle Genossen oft nichts ein.
Foto: Andreas Urban

Die klassische Sachdebatte beschränkt sich in den Laboren deshalb auf drei Themen: Kampf gegen Ungleichheit, Für und Wider Grundeinkommen sowie den Ausbau demokratischer Beteiligung, damit die unteren Einkommensschichten nicht immer weiter abgekoppelt werden. Die wichtigste Antwort aber erhofft sich Maltschnig auf die Frage nach dem großen Ganzen: Die SPÖ sucht eine politische Erzählung, in die sie ihre Einzelideen verpacken kann. Die Aktivisten hätten oft viel spezielles Wissen, berichtet die Akademiechefin: "Aber fragt man nach, warum es abgesehen von gewissen Detailforderungen die SPÖ braucht, herrscht eine gewisse Sprachlosigkeit."

Die ÖVP hat's leicht

Als Bruno Kreisky vor 50 Jahren seine erste Regierung anführte, hatte er solch ein Narrativ, Maltschnig fasst es als "die Modernisierung der Gesellschaft" zusammen. Alfred Gusenbauer versuchte es, weniger erfolgreich, mit der "solidarischen Hochleistungsgesellschaft", und natürlich hat auch die erfolgreiche türkise ÖVP ihre Story. "Sie heißt Sebastian Kurz", sagt Maltschnig.

Weil in der SPÖ keine derart identitätsstiftende Führungsfigur in Sicht ist, wartet noch viel Kopfarbeit. Mit einem simplen Slogan in einer Broschüre sei es ja nicht getan: Es brauche eine "vielstimmig getragene" Überzeugung. Die SPÖ wolle dem rational gesteuerten "homo economicus" ein anderes Menschenbild entgegensetzen, sagt Maltschnig, und dabei klären, wie Solidarität heute noch organisiert werden kann.

Zwei Nackenschläge für die SPÖ

Wie der SPÖ ihre Erzählung abhandengekommen ist? Maltschnig sieht zwei Zäsuren. 2008 hat die Finanzkrise den sozialdemokratischen Warnungen vor ungezügeltem Kapitalismus eigentlich recht gegeben. Doch obwohl die SPÖ der neoliberalen Versuchung weit weniger erlegen war als etwa die deutsche SPD, gebe es auch hierzulande ein Glaubwürdigkeitsproblem. Vorwurf: "Ihr wart ja Teil des Systems."

Als zweiten Einschnitt nennt sie die Flüchtlingskrise 2015 mit den Bildern der Menschen, die unkontrolliert über die Grenze hereinströmten. Beide Ereignisse hätten vielen das beängstigende Gefühl beschert, dass die Regierenden ohnmächtig seien, analysiert Maltschnig. Beide Male zogen die Rechtspopulisten Profit, indem sie Schutz im heimeligen Nationalstaat versprachen.

Das neue rote Gegenrezept soll sich beim Zukunftskongress Ende April abzeichnen – wenn die SPÖ dann nicht doch wieder andere Sorgen hat. Mitte des Monats wird das Ergebnis der Mitgliederbefragung vorliegen, womöglich dräut die nächste Runde der Führungsdebatte. Ob sie denn Rendi-Wagners Vertrauensfrage gut findet? Auch Maltschnig bricht nicht in Begeisterungsstürme aus, sie beschränkt sich auf den Satz, den so viele Funktionäre bemühen: "Das ist die persönliche Entscheidung der Parteivorsitzenden." (Gerald John, 4.3.2020)