2018 wurde Lise Meitner von der Universität Wien geehrt. Sie war eine Physikerin, die zwar den Nobelpreis mehrmals verdient hätte, ihn jedoch nie bekam. Es gibt mehrere Artikel die im Detail über ihr Leben berichten, jedoch wenige, die die Physik, von der sie so bezaubert war, erklären.

Ihr Leben

Elise (Lise) Meitner wurde am 7. November 1878 als Tochter eines jüdischen Großbürgerpaares in Wien geboren. Ihr Vater, Phillipp Meitner, war einer der ersten jüdischen Anwälte in Österreich. Von Kindheit an war die junge Lise von Naturwissenschaften und Mathematik fasziniert, aber die Beschränkungen, die den Frauen in dieser Zeit auferlegt wurden um an öffentlichen Hochschulen zu studieren, zwangen sie dazu, sich mit einer privaten Ausbildung in Physik zu begnügen. Die externe Maturaprüfung am Akademischen Gymnasium schloss sie erfolgreich ab. Danach trat sie in die Universität Wien ein, wo ihre Begeisterung für Physik sie zu den Vorlesungen von Ludwig Boltzmann führte. Man sagt, dass ''Boltzmann ihr die Vision der Physik als Kampf um die endgültige Wahrheit gegeben hat. Eine Vision, die sie nie verloren hat''. Boltzmann’s Assistent Stefan Meyer war derjenige, der Lise über das neue spannende Feld der Radioaktivität erzählte. Somit entschied sie sich, nach ihrer Dissertation mit Franz Exner, in der sie sich mit der Wärmeleitung in inhomogenen Medien beschäftigte, für die Radioaktivität als Forschungsgebiet. Damals, 1906, schrieb sie ihren ersten Artikel über die Absorption von Alpha- und Betastrahlung.

Kurz darauf lernte sie Max Planck in Wien kennen. Dank Planck bewarb sich Meitner für eine Stelle in Berlin. Sie bekam eine Stelle im Labor des experimentellen Physikers Heinrich Rubens und meldete sich für das Physik-Kolloquium an. Dort machte sie die Bekanntschaft von Otto Hahn, einem außergewöhnlichen Radiochemiker, der in Berlin als Außenseiter galt. So wurde eine große wissenschaftliche Freundschaft geboren. Meitner und Hahn forschten Anfang der 1910 Jahre gemeinsam an der Absorption und dem Verhalten der Alpha- und Betastrahlung in Magnetfeldern.

Lise Meitner und Otto Hahn
Foto: imago/Leemage

Am Ende des ersten Weltkrieges wurde sie Professorin der Physik-Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie, wo sie ihre eigene Forschung verfolgte. Sie verfasste 1935 gemeinsam mit dem Theoretiker Max Delbrück die Monografie „Der Aufbau der Atomkerne“. 1938 arbeitete sie wieder mit Otto Hahn zusammen und gemeinsam entdeckten sie die Kernspaltung von Uran: eine Entdeckung, die die Menschheitsgeschichte für immer veränderte. Doch der nationalsozialistische Regime änderte alles. Sie musste im Juli 1938 mit Hilfe von Hahn und Dirk Coster nach Stockholm fliehen, wo sie neun Jahre später Leiterin der kernphysikalischen Abteilung an der Königlichen Technischen Hochschule Stockholm wurde. Sie starb am 27. Oktober 1968 in Cambridge, wo sie mit ihrem Neffen Otto Frisch die letzten acht Jahre ihres Lebens zusammenarbeitete.

Kernphysik in Kürze

Materie besteht aus Atomen, die aus einem Kern und Elektronen bestehen. Der Kern wiederum besteht aus positiv geladenen Teilchen, den Protonen (Z), und elektrisch neutralen Teilchen, den Neutronen (N). Die typische Größe eines Atoms beträgt etwa 0,1 nm (0,00000001 cm), und der Kern ist etwa 10000 Mal kleiner. Es ist allgemein bekannt, dass sich Gegenstücke anziehen, so dass die negativen Elektronen von den positiven Protonen im Kern angezogen werden. Diese Anziehungskraft zwischen negativen und positiven geladenen Teilchen ist die Coulomb-Kraft.  Im Kern, in dem sich nur die positiv geladenen Protonen befinden, ist die Situation jedoch anders, denn nach dem Gesetz, das besagt, dass gleiche Ladungen sich gegenseitig abstoßen, wäre es für den Kern schwierig, zu überleben. Aber hier kommt die extrem kleine Dimension des Kerns ins Spiel, und die starke anziehende Kernkraft dominiert über die abstoßende Coulomb-Kraft, was zu einem stabilen Kern und damit zu einem stabilen Atom führt. 

Atome müssen ladungsneutral sein, das bedeutet, dass sie die gleiche Anzahl von Elektronen und Protonen haben sollten. Ein Kern mit der gleichen Anzahl von Protonen, aber unterschiedlicher Anzahl von Neutronen wird als Isotop bezeichnet. Die stabilen Atome in der Natur sind in der Regel solche, deren Kerne eine gleiche Anzahl von Protonen und Neutronen aufweisen. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Die Radioaktivität lässt sich in einem sehr einfachen Bild durch die Instabilität des Kerns erklären, die als Ladungsungleichgewicht betrachtet werden kann. Um also in einen stabilen Zustand zu gelangen, gibt der Kern Strahlung ab. Bei diesem Prozess, der Kernzerfall oder radioaktiver Zerfall genannt wird, verändert sich die Anzahl an Protonen, Neutronen oder Elektronen des Kerns, sodass dieser entweder in einen stabilen Zustand gelangt oder weiter zerfallen kann.

Die beim Kernzefall emittierte Strahlung kann entweder Alphastrahlung, Betastrahlung oder Gammastrahlung sein. Die Eigenschaften dieser Strahlungen, auch radioaktive Teilchen gennant, sind sehr unterschiedlich. Es waren zum Teil die Arbeiten von Lise Meitner und Otto Hahn über ihr Verhalten in Magnetfeldern, die mehr Informationen über ihre Natur gaben. Sie legten ein Stück Thorium, ein bekanntermaßen instabiles Element, auf ein Stück Holz und beobachteten die Ablenkung der Betastrahlung in einem Magnetfeld auf einem Fluoreszenzschirm. Wenn sich Elektronen in einem Magnetfeld bewegen, ändern sie ihre Flugbahn von einer geraden Bahn zu einer kreisförmigen Bahn. Auf die gleiche Weise beobachteten sie, dass sich die Betastrahlung in eine Richtung krümmte, die darauf hinwies, dass es sich um negativ geladene Teilchen handelte. Interessanterweise erreichte die Betastrahlung nicht immer die gleiche Stelle auf dem Bildschirm, was bedeutet dass die Betastrahlung eine breite Anzahl von Energiewerten hat.

Alphastrahlung sind stabile Heliumkerne, die aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehen und monoenergetisch sind, das heißt sie haben einen einzigen Energiewert von 5.000.000 eV (5 MeV). Betastrahlung besteht hauptsächlich aus Elektronen und ihre Energien liegen zwischen 1-3 MeV. Gammastrahlung hingegen ist unbeeinflusst von Magnetfeldern, was den Schluss zulässt, dass sie aus ungeladenen Teilchen besteht. Tatsächlich besteht die Gammastrahlung aus Photonen, also Lichtteilchen. Die bekannteste Gammastrahlung ist die Röntgenstrahlung.

Auf der Grundlage ihrer Studien über die Absorption und die Art der Alpha- und Betastrahlung konnte Meitner ungefähr vorhersagen, wie eine eventuelle Kernreaktion beim Beschuss eines instabilen Elements mit Alpha- oder Betateilchen ablaufen würde.

Schematische Darstellung der Kernspaltung.
Bild. R. Adhikari

Die Kernspaltung: Ein Phänomen, das den Lauf der Menschheit verändert hat

Die Geschichte der Kernspaltung begann wahrscheinlich mit der Entdeckung des Neutrons durch James Chadwick im Jahr 1932. Nach dieser Entdeckung untersuchten Enrico Fermi und seine Mitarbeiter in Rom die Ergebnisse der Bombardierung von Uran mit Neutronen, wobei sie die Existenz neuer radioaktiver Elemente nachwiesen. Es fehlte jedoch das Verständnis für den tatsächlichen physikalischen Mechanismus, der diesen Prozess steuerte. Es gibt ein sehr einfaches Bild, um die Kernspaltung zu verstehen: Man muss den Kern als einen kugelförmigen Flüssigkeitstropfen betrachten. Ein einfallendes Neutron kann zu Verformungen des ursprünglichen Flüssigkeitstropfens führen und seine Form verändern. Der Flüssigkeitstropfen kann sich verlängern und zwei Lappen bilden, die sich trennen und eine Spaltung des ursprünglichen Kerntropfens in zwei Tropfen verursachen. Auf ähnliche Weise verwandelt sich bei der Kernspaltung ein Mutterkern in zwei oder mehr Tochterkerne.

1938 erzählte Otto Hahn Lise Meitner, dass beim Beschuss des 238-Uran-Isotops (N=146 und Z=92) mit Neutronen neun Beta-Zerfälle erzeugt wurden, wobei am Ende die Bildung von Barium (Z=56) zurückblieb. Dies war ein unerwartetes Ergebnis, und Otto Frisch, ihr Neffe, der sich der Forschung seiner Tante angeschlossen hatte, nannte es Kernspaltung, nach einem ähnlichen Phänomen, das in Zellen beobachtet wurde.  Meitner kam zusammen mit Frisch zu dem Schluss, dass das Uran mit einem enormen Energieaufwand neben Barium auch Xenon (Z=36) produziert hatte. Und woher kam diese Energie? Hier kann dank Albert Einsteins berühmter Massen-Energie-Äquivalenz-Formel von E = mc² die Energiemenge berechnet werden, die in einem einzigen Spaltungsereignis erzeugt werden konnte. Die Menge m ist die Differenz der Kernmassen der Töchter- und Mutterkerne und c bezeichnet die Lichtgeschwindigkeit. Da der Wert von c bekanntermaßen 300.000 km/s beträgt, ist die Energieausbeute bei einem Spaltungsereignis enorm - viel größer als die chemische Verbrennung je erbracht hat.

Die Nachricht von der Entdeckung der Kernspaltung erreichte bald die andere Seite des Atlantiks, zu der Zeit als in Europa der dunkle Schatten des Zweiten Weltkrieges drohte. Während die Kernspaltung als Quelle für nachhaltige Energie hätte dienen können, wurde sie durch das Manhattan-Projekt bald genutzt, um die erste Kernwaffe zu bauen. Kontrollierte Kernspaltung könnte uns nützliche Energie liefern, aber in einer unkontrollierten Kettenreaktion führt selbst ein Kilogramm Uran (U-235) zu einem Ertrag von 17,5 Kilotonnen TNT (Trinitrotoluol). Und so gingen das Geschenk der Wissenschaft und die ehrliche Überzeugung der Wissenschaftler durch die Politik verloren.

Ihr Vermächtnis

Meitner blieb immer in Kontakt mit Hahn und musste mit ansehen, wie ihr Forschungspartner 1945 für die gemeinsame Arbeit an der Kernspaltung mit dem Nobelpreis in Chemie geehrt wurde. Dennoch ließ sie sich nie unterkriegen. Lise Meitner war sich ihres Beitrags sicher. Sie wusste, was sie geleistet hatte, auch wenn es erst viel später anerkannt wurde. Sie stand der Anwendung der Kernspaltung in Waffen sehr kritisch gegenüber, dennoch liebte sie ihre Arbeit: „Ich liebe Physik, ich kann sie mir schwer aus meinem Leben wegdenken.“ Lise Meitner war eine selbstbewusste Frau, deren Begeisterung für die Physik, nicht jungen Frauen, sondern jedem Kind, das die Natur mit den Mitteln der Wissenschaft erforschen und die Menschheit positiv verändern möchte, als Inspiration dienen sollte. (Andrea Navarro-Quezada, Rajdeep Adhikari, 8.3.2020)

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