Eine junge Frau berichtet aus ihrer Kindheit in einer strengreligiösen Gemeinschaft.

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In Annas Kindheit fing jeder Tag mit dem Studium der Bibel an. "Ich habe ein Kapitel gelesen und mir dann darüber Gedanken gemacht, wie ich mich heute gottgefällig verhalten kann", sagt die junge Frau. Obwohl ihre Kindheit nach außen hin behütet und schön ausgesehen habe, sei sie ständig von Angst bedrückt gewesen.

Für Anna war die Welt entlang einer strikten Linie eingeteilt: Auf der einen Seite waren die Guten, auf der anderen die Bösen. Alles war darauf ausgerichtet, es auf die gute Seite zu schaffen: "Wir hatten Angst vor dem Weltuntergang. Wir haben uns als schuldige Sünder gesehen", sagt sie. "Ich habe in einem dystopischen Paralleluniversum gelebt."

Evangelikale Vielfalt

Anna wuchs in einer evangelikalen Freikirche in Wien auf, dem Evangeliums-Zentrum – das sie als "christlich-fundamentalistische Sekte" bezeichnet. Rund 300 Freikirchen mit etwa 50.000 bis 60.000 Mitgliedern gibt es in Österreich. Darunter sind auch kleine Gemeinschaften – im Prinzip kann jeder eine gründen. Manche sind liberal, andere sehr konservativ. Letztere schotten sich schlimmstenfalls komplett von der Außenwelt ab, wie etwa der Fall einer 13-Jährigen in Niederösterreich zeigt. Das Mädchen ist vergangenen September gestorben, weil die Eltern aus religiösen Gründen eine medizinische Behandlung verweigert hatten.

Der Zeit im Bild und dem STANDARD berichtet Anna aus ihrer Kindheit und damit von einem weiteren Fall von Gewalt im evangelikalen Milieu. Heute ist sie erwachsen und nicht mehr Teil der freikirchlichen Szene. Sie war 14, als ihre Eltern entschieden, die Gemeinschaft zu verlassen. Manche Wunden sind bis heute nicht verheilt. Anna leidet unter den Spätfolgen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Was war in ihrer Kindheit geschehen?

Das Gefühl existenzieller Angst und Selbstablehnung habe in ihrer Kindheit so selbstverständlich zum Leben gehört wie Atmen.
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Strenge Erziehungspraxis

Anna beschreibt ihre Erziehung als religiös-fundamentalistisch und von psychischer Gewalt geprägt. Sie erzählt etwa von bedrohlichen Szenarien, die von Gemeindemitgliedern gesponnen wurden und sich in der Gedankenwelt des Kindes festsetzten: Am Tage des Weltgerichts würde sie ohne ihre Eltern auf der Erde zurückbleiben und alleine die Apokalypse erleben müssen – sollte ihr Glaube nicht ausreichen. "Kindern so eine Realität zu vermitteln ist Gewalt", sagt sie. Die unendliche Schuld wurde zu ihrem ständigen Begleiter: "Es macht einen kaputt." Das Gefühl existenzieller Angst und Selbstablehnung habe in ihrer Kindheit so selbstverständlich zum Leben gehört wie Atmen. Um die Lehre zu verbreiten, seien auch Kinder und Jugendliche aufgefordert worden, aktiv zu missionieren – ein No-Go, wie Kinderrechtler betonen.

Doch in der Gemeinschaft soll es auch zu körperlicher Gewalt gekommen sein. "Wer seinen Sohn liebt, der züchtigt ihn und schont die Rute nicht" – dieses Credo sei bestimmend für die Kindererziehung gewesen. Sie selbst erlebte keine körperliche Gewalt, habe diese aber in anderen Familien wahrgenommen: "Doch ich habe oft beobachtet, wie meine Freundinnen von ihren Eltern geschlagen wurden." Kinder seien zur Strafe auch weggesperrt worden.

Zudem sei seine repressive Sexualmoral gelehrt worden, etwa dass Homosexualität dämonische Besessenheit bedeuten würde.

Vorwürfe zurückgewiesen

In einem umfangreichen Statement, das das Evangeliums-Zentrum der ZiB und dem STANDARD übermittelte, werden die Vorwürfe generell bestritten. Es heißt: "Leider können wir nicht Handlungen und Meinungen Einzelner kommentieren. Bei ca. 200 Leuten gibt es eine Meinungsvielfalt. Wir sind überrascht, dass jetzt, 20 Jahre danach, diese massiven Vorwürfe kommen, und bedauern das zutiefst."

Die Vorwürfe der körperlichen Züchtigung weist die Gemeinschaft zurück: Man habe keine wortwörtliche Auslegung von Bibelstellen, sondern eine "sinngemäße, die im Gesamtzusammenhang der biblischen Lehre zu verstehen" sei. "Erziehungsmaßnahmen sind seit jeher eine private Angelegenheit der einzelnen Familien. Wir als Verein des Evangeliums-Zentrum geben hier Familien keinerlei Vorgaben. Wir distanzieren uns aber von jeder Art der Gewalt", heißt es in einem Statement gegenüber dem STANDARD und der Zeit im Bild. Auf der Website des Zentrums verweist dieses selbst unter dem Punkt "Beziehung zur Familie" auf folgenden Bibelspruch: "Narrheit ist gekettet an das Herz des Knaben; die Rute der Zucht wird sie davon entfernen."

Angsteinflößende Erziehung, etwa durch Androhung der Apokalypse oder Wegsperren, entspreche nicht der vertretenen Lehre: "Wir gehen davon aus, dass Jesus Menschen liebt und, die an ihn glauben, rettet. Diese kommen mit 100 Prozent Sicherheit in den Himmel." Man habe keine Drohbotschaft, von einer "Apokalypse im landläufigen Sinn" rede man "eigentlich gar nicht". Was Missionierungsarbeit durch Kinder betrifft, hält das Zentrum fest: "Wir vermeiden auf alle Fälle, Kinder zu instrumentalisieren oder zu manipulieren."

Eine "Besessenheit" Homosexueller sei zudem nicht gelehrt worden, man teile in puncto Moral aber die Meinung, dass "gleichgeschlechtlicher Verkehr nicht mit der biblischen Lehre vereinbar ist".

Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen warnt vor Gemeinschaften, in denen weltliche Einflüsse als verpönt gelten.
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Beratungsstelle warnt

Doch die Bundesstelle für Sektenfragen kommt zu einer differenzierteren Einschätzung der Lage: "Seit Bestehen unserer Stelle haben wir Berichte über dieses Zentrum", sagt die Expertin Ulrike Schiesser. "In der Frage, wie sie ihren Glauben leben, sind sie sicher eine der extremsten Freikirchen, die wir kennen", sagt Schiesser. Immer wieder würden problematische Berichte von Aussteigern eintrudeln.

Obwohl das Evangeliums-Zentrum dem Bund der Freikirchen nicht angehört, verweist es auf dessen Expertise. Deren Sprecher Reinhard Kummer hatte bisher "einen guten Eindruck" von der Gemeinschaft: "Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es dort nicht mit rechten Dingen zuginge." Nachdem er von den Vorwürfen gehört hat, sagt er jedoch entschieden: Würde ihm so etwas zu Ohren kommen, käme es "in kurzer Zeit zu einer Anzeige. Für mich ist das eindeutig Machtmissbrauch."

Weltliche Einflüsse

Anna hat sich dazu entschlossen, ihre persönliche Geschichte öffentlich zu machen. Laut der Bundesstelle gibt es ein systematisches Problem am extremen Rand der Evangelikalen: "Es ist kein Einzelfall", sagt Schiesser. "Wir haben immer wieder Berichte von Kindern, die sehr repressiv aufwachsen. Manche Gemeinschaften sehen körperliche Züchtigung als Auftrag." Kinder würden von der Gesellschaft bewusst ferngehalten. Auch das sei Kindeswohlgefährdung, sagt Schiesser.

In manchen Gemeinschaften gelten weltliche Einflüsse als verpönt. Das kann Auswirkungen auf Beziehungen zu Menschen, die außerhalb der Gemeinschaft leben, haben. Aber auch Fernsehen oder kulturelle Veranstaltungen, die nicht mit der Lehre übereinstimmen, sind manchmal verboten. Zum Beispiel Bücher, in denen Hexerei vorkommt, wie Harry Potter oder Krabat.

Kinderrechte vs. Religionsfreiheit

Werden Kinder geschlagen, bewegt man sich eindeutig im strafrechtlich relevanten Bereich. Schwieriger gestaltet es sich bei psychischer Gewalt: "Es ist relativ schwierig, das dingfest zu machen", sagt Schiesser. Dabei seien die Auswirkungen von psychischer Gewalt massiv: "Sie haben gelernt, dass sie selbst nicht wichtig sind. Viele tun sich schwer, ihre eigenen Bedürfnisse zu benennen; manche sogar, Hunger und Durst wahrzunehmen."

Was wiegt nun schwerer, die Religionsfreiheit oder Kinderrechte? Der Kinder- und Jugendanwalt der Stadt Wien, Ercan Nik Nafs, ist ebenfalls mit Annas Fall vertraut. Das große Dilemma in religiösen Gemeinschaften bestehe darin, dass sich das Erlernen von Autonomie und die Notwendigkeit, Kinder zum Glauben zu erziehen, widersprechen würden. Er sagt aber auch: "Religionsfreiheit steht nicht über den Kinderrechten", und verweist auf das Verfassungsgesetz: "Jedes Kind hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung (...) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein", heißt es dort.

Der Kinder- und Jugendanwalt der Stadt Wien, Ercan Nik Nafs, fordert ein gesellschaftliches Umdenken, was Erziehung angeht.
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Wen geht Erziehung etwas an?

Nik Nafs fordert ein gesellschaftliches Umdenken: Erziehung sei nicht nur Sache der Eltern. Ein Problem sei, dass "Wohlerzogenheit" oft als Hinweis gewertet werde, dass das Kindeswohl gegeben sei. Kinder aus strengreligiösen Gruppen seien aber eben meist brav. "Die Idee der Wohlerzogenheit steht in einem Spannungsverhältnis zu Autonomiefähigkeit", sagt der Experte. Und fordert: "Predigten, in denen mit Schuld und Angst gearbeitet wird, sollten in Anwesenheit von Kindern untersagt sein." Auch Anna will, dass Kinder vor religiösem Missbrauch geschützt werden.

Für sie ist klar: "Derzeit wird das Recht der Eltern auf Religionsfreiheit höher bewertet als das Recht der Kinder auf Gewaltfreiheit." Liebe – egal ob elterliche oder göttliche – sei für sie auch etwas Bedrohliches, Autoritäres gewesen. "Erst mit Anfang 20 lernte ich, wieder unbeschwert und vertrauensvoll auf Menschen zuzugehen, Beziehungen zu knüpfen und mir eine eigene Meinung zu bilden." Heute ist Anna nicht mehr gläubig. (Vanessa Gaigg, 8.5.2020)