Neil Young Anfang der 1990er-Jahre.

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Neil Young ist mein Bob Dylan. Nichts gegen den Orden Bob, aber ich bin halt, Zitat Dylan, forever Young. Wann ich ihn das erste Mal gehört habe, weiß ich nicht mehr genau, wahrscheinlich war ich ungefähr zwölf. Jedenfalls habe ich nie wieder aufgehört, ihm zuzuhören. Trotz aller Herausforderungen, die das bedeuten sollte: Neil Young geht immer.

Ich konnte Swans und Prayers on Fire von der Birthday Party hören und Comes A Time dazwischenschieben, ohne dass es mir seltsam vorgekommen wäre. Oder Talking Heads und Devo und DAF und mittendrin Live Rust. Dass Neil mit Devo gespielt hat, wusste ich da noch gar nicht. Wire und Life, die erste Art of Noise, und drauf Harvest – allemal. Neubauten und American Stars 'n Bars? Wie gesagt, Neil geht immer.

Aufbruch und Morgenleuchten

Ich mag nicht alles, aber vieles. Die 1980er waren teilweise hart, Old Way zum Beispiel, und die letzten zehn Jahre fielen ebenfalls eher durchwachsen aus, aber es bleibt spannend. Zumindest in den 1980ern hat er sich ab dem Album Life wieder gefangen, sich von Landing On Water erholt, und ich mich ebenfalls, wobei ich finde, dass sogar das ... – vielleicht ein andermal.

Life war 1987 das letzte der exzentrischen Geffen-Alben. Ein gerne übersehenes Werk mit dem herrlichen Mideast Vacation und ein paar derben Rockern. Es markierte einen Aufbruch, der über die bald folgende Mini-LP Eldorado mit dem Morgenleuchten Cocaine Eyes und Freedom (mit Rockin' in the Free World) zu jenem Album führte, das hier behandelt wird, das vor 30 Jahren erschienene Ragged Glory.

Neil Youngs Life – von hier an ging's bergauf: Mideast Vacation.
Neil Young - Topic

Ragged Glory soll heuer in Youngs Archiv-Serie neu aufgelegt werden, erweitert um gut 40 Minuten unveröffentlichtes Material. Es ist jenes Album, das in Youngs sprunghafter Karriere einen Wendepunkt markierte, einen, der ihn wieder auf die Höhe der Zeit brachte. Dabei war er das mit mehr oder weniger gelungenen Resultaten immer wieder. Er war der Hippie, der sich vor Punk nicht gefürchtet hat, sondern ihn begrüßte und sich nie scheute, etwas Verrücktes auszuprobieren.

Neil mit Sex-Pistols-T-Shirt.
Foto: Warner

Ragged Glory führte zwei Wege zusammen. Im US-amerikanischen Underground des Post-Punk und Post-Hardcore hatten sich viele Bands etabliert, die, über die College-Radio-Stationen popularisiert, einen Mittelweg aus Fortschritt und Tradition beschritten haben. Bands wie R.E.M., die Pixies, der Neil-Young-Schüler J Mascis und seine Dinosaur Jr., Camper Van Beethoven, Green on Red, Violent Femmes und dutzende mehr.

Zeitgeist trifft Freigeist

Zu Beginn der 1990er führte sie der daraus entstandene Zeitgeist mit dem Freigeist Young zusammen. Der Zeitgeist bedeutete damals auch Seattle. Dem Grunge-Boom verdankte Young ob seiner Feedback-Orgien den Titel Godfather of Grunge. Young bat Bands wie Sonic Youth als Vorband mit auf Tour zu gehen – plötzlich trugen all die hippen Bands jene Gala, die er schon immer getragen hat: karierte Hemden und zerstörte Jeans.

All das versammelt Ragged Glory. Es vermengt Garagenrock mit dem Stallgeruch eines zurückgelehnten, melodieseligen Country-Rock – beides wälzt Young, damals Mitte 40, mit der besten faulen Band der Welt auf gehörige Längen aus. Daraus entstand jene Transzendenz, die viele Young-Klassiker seit den 1960ern auszeichnet. Keine seiner Bands war je so genial willfährig, ihn dabei zu unterstützen, wie Crazy Horse in ihrer verschlapften Sturheit, die hier eine Kraft freisetzt, wie Lava auf dem Weg ins Tal sie hat.

Mansion on the Hill – Hippieshit in full force.
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Für Ragged Glory spielten Young und Crazy Horse bei ihm im Stall jeden Tag zwei, drei Sets verschiedener Songs. Das ging ein paar Wochen lang so. Aus den gesammelten Aufnahmen stellte der Kanadier schließlich ein Album von über einer Stunde Spieldauer zusammen. Es entstand ein homogenes, dabei nie gleichförmiges Werk, das einen Optimismus verströmte, der sich bei jenem Auftrieb nährte, den Young seit Freedom, dem Vorgänger, verspürte.

In friedliche Rage gespielt

Ist Freedom noch eine uneinheitlich wirkende Songsammlung, erscheint Ragged Glory wie das stimmige Resultat einer Einladung von ein paar alten Hippies, doch das Wochenende mit ihnen zu verbringen. Dabei fangen sie zu musizieren an. Sie fallen in das schunkelnde Country Home und spielen sich langsam in friedliche Rage. Ralph Molina trommelt stur die eins auf seinem Snare, das bleibt mit einigen Variationen eine Konstante des Albums.

White Line hüpft fröhlich, so als wären draußen gerade die Burger gewendet worden. F*!#in' Up ist wütender, sind die Burger verbrannt? Over and Over zieht die Schrauben weiter an und bäumt sich mit acht Minuten Spielzeit zu einem jener Neil-Young-Songs auf, die die Qualität von Down By The River oder Like A Hurricane besitzen.

Nachdem MTV keine achtminütigen Videos zeigte, hier die Schmalhans-Version von Over And Over.
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Love To Burn legt dann mit zehn Minuten eins drauf. Man sieht Young förmlich, wie er in seinen Soli den Stall durchmisst, während Frank Sampedro bestenfalls vom einen auf den anderen Fuß wechselt: bloß kein Theater. Für Sampedro ist eigentlich jede Bühne zu groß, die ihm mehr Platz einräumt, als eine Kiste Bier braucht.

Farmer John ist dann ein Bruch. Eine Fremdkomposition, die die vier ungespitzt in den Boden rammen, bevor es hippieselig in Mansion On The Hill geht: Der Song besitzt eine Euphorie, die Young selten so gebündelt ablieferte: "There's a mansion on the hill / Psychedelic music fills the air / Peace and love live there still / In that mansion on the hill."

"Southern Pacific" revisited

Hippie-Shit in full force. Das ist eine der Qualitäten dieses Werks, dass sich Young natürlich in seinen Überzeugungen treu bleibt, musikalisch aber eine Form findet, die Biss hat, die Trend und Zeitlosigkeit in sich vereint.

Extra feingemacht für das Promofoto. NY und Crazy Horse 1990.
Foto: Warner Music

Nach einem kurzen Country-Rock-Rumpler, wie er auch auf Zuma hätte auftauchen können, setzt er die Klimax. Das manifeste Love and Only Love dehnt er über die Zehn-Minuten-Grenze, Billy Talbots Bassmelodie ist für die Deepness des Songs ebenso verantwortlich wie für seine Beschwingtheit, über die Sampedro und Young ihre Gitarren legen. Verzerrt, klar, verschränkt, verliebt, im Clinch, immer auf Spur und voll daneben. Ein Freak-out, dabei kontrolliert und mit dem Ziel vor Augen, in den nächsten zehn Minuten nicht langweilig werden zu dürfen. Talbots Bass erinnert ein wenig an Southern Pacific vom großartigen Album Reactor.

Love and Only Love – der Höhepunkt von Ragged Glory.
Neil Young - Topic

Die Wucht und die Pracht und die Herrlichkeit, mit denen Young und Co hier abliefern, entwaffnen jede Kritik. Kein Wunder, dass die jungen Wilden Ehrfurcht verspürten – und kein Wunder, dass der alte Hase ihre Bewunderung genossen hat und für ihre Frischzellenzufuhr dankbar war.

Young war plötzlich schwer angesagt. Seinem Wesen nach schlug er gleich den nächsten Haken und veröffentlichte das leise Folkalbum Harvest Moon, kurz darauf das brutale Weld. Er, der immer schon akustisch gespielt hatte, wurde zu MTV Unplugged gebeten, er, der immer schon öffentlich Trauerarbeit geleistet hatte, tat das 1994 auf Sleeps With Angels für Kurt Cobain und spielte 1995 mit Pearl Jam als Backing Band ein weiteres Meisterwerk ein: Mirrorball.

Nachts allein im Stall

Der Kraftquell all dieser Entwicklung war Ragged Glory. Nach dem ausschweifenden Love and Only Love schickt er die Band ins Bett. Spätnachts – verdammte Ruhelosigkeit, verdammter Harndrang – schleicht er sich allein in den Stall, um den Nachbarn mit Mother Earth (Natural Anthem) noch einmal klarzumachen, neben wem sie hier wohnen. (Tatsächlich ist es eine Live-Aufnahme von einem Konzert, aber hey, man wird ja wohl noch fantasieren dürfen).

Das hymnische Mother Earth – ein wiederkehrendes Thema Youngs – soll heute bei Fridays-for-Future-Demonstrationen in den USA immer wieder gespielt werden. Nur für den Fall, dass jemand denkt, das sei nicht mehr aktuell. Irrtum. Wir erinnern uns: Neil passt immer. (Karl Fluch, 5.3.2020)