Ludwig van Beethovens Reise von Bonn nach Wien im November 1792 wird typischerweise – auch in der Fachliteratur – als triumphale Erfüllung eines persönlichen Schicksals erzählt: Das junge Genie verließ seine provinzielle Heimatstadt, Schauplatz einer unglücklichen Kindheit, für die pulsierende Musikmetropole und kehrte nie wieder zurück. So schmeichelnd dieses Bild von Beethoven als "Wahlwiener" (so Bürgermeister Michael Ludwig) für das lokale Selbstverständnis auch sein mag – es steht nicht nur in einem unangemessenen Verhältnis zu den tatsächlichen Gegebenheiten, die ihn in die Kaiserstadt brachten, sondern wertet ebenso die Bedeutung der 22 Bonner Jahre des Komponisten gravierend und unberechtigterweise ab.

Beethoven als junger Mann, 1804/1805.
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Ursprünglich geplant: Eine Studienreise

"ich lebe hier noch gut, komme immer meinem mir vorgestekten Ziele näher, wie bald ich von hier gehe, kann ich nicht bestimmen, meine erste Ausflucht wird nach ytalien seyn, und dann vieleicht nach Rußland…"

So schreibt Beethoven an seinen Bonner Freund Heinrich von Struve in St. Petersburg am 15. September 1795. Zu dem Zeitpunkt lebt der 24-Jährige seit fast drei Jahren in Wien und hat erfolgreich Kompositionsunterricht bei Joseph Haydn und Johann Georg Albrechtsberger absolviert. Sein legendäres Klavierspiel ist bereits in aller Munde. Ein erstes öffentliches Konzert – gemeinsam mit Haydn – wird geplant. Die letzten Fahnen seiner Klaviertrios Opus 1 stehen beim Wiener Verleger Artaria & Co. druckbereit. Allem Anschein nach ist Beethoven auf dem Sprung zu einer führenden Position in der Wiener Musikwelt.

Jedoch klingt Beethoven in diesem Brief eher unentschlossen, ob er überhaupt in Wien bleiben will. Wie ist das zu erklären? Zum einen liegt es daran, dass seine Zukunft tatsächlich unklar war. 1792 wurde der hochbegabte Hofmusiker von seinem Dienstherrn, Kurfürst Maximilian Franz, nach Wien geschickt, um seine kompositorischen Fähigkeiten bei einem Meister zu perfektionieren. Der Aufenthalt folgt deutlich dem herkömmlichen Muster einer höfischen Bildungsreise – als Vorbereitung auf ein hohes Amt, möglicherweise auf das eines Hofkapellmeisters.

Bonn war von den Franzosen besetzt

Dass Beethoven nicht zurückkehrte, hat ausschließlich mit politischen Umwälzungen zu tun: Ab Oktober 1794 gab es im französisch besetzten Bonn keinen Hof mehr. Alle Hofangehörigen mussten mittlerweile für sich selbst Sorge tragen. Beethovens genauso begabte Kolleginnen und Kollegen, darunter etwa Andreas Romberg und Magdalena Willmann, gingen zeitweilig auf Konzerttourneen.

Die Kurfürstliche Residenz zu Bonn, 1780er-Jahre.
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Aber das Dienstverhältnis endete keineswegs mit der Auflösung des Hofes. Der Kurfürst plante bis zu seinem Tod eine Rekonstitution seines Hofstaats in Münster. Auf einer 1800 erfassten Liste von Angestellten steht der nun fest etablierte Musikstar immer noch: "Beethoven bleibt ohne Gehalt in Wien, bis er einberufen wird."

Eine glänzende Musikkultur unter Maximilian Franz

Das übliche Narrativ von bürgerlicher Selbstemanzipation in Wien erweist sich nicht nur aus damaliger juristischer Sicht kontrafaktisch. Vielmehr sehnte sich Beethoven lebenslang nach einer neuen Hofanstellung und blickte immer wieder nostalgisch auf seine Bonner Jahre zurück. Diese Nostalgie hatte einerseits mit der – heute schwer vorstellbaren – Attraktivität einer höfischen Anstellung zu tun, aber auch mit der herausragenden Musikpflege in Bonn während Beethovens Jugend.

Ludwig van Beethovens erster bedeutender Mäzen, Kurfürst Maximilian Franz.
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Der als "tiefer Kenner" bezeichnete Habsburger Kurfürst Max Franz (Regierungszeit 1784–1794) besaß eine immense Bibliothek der aktuellsten Musikwerke und den unersättlichen Wunsch, diese am Hof vor einem hochgebildeten Publikum erklingen zu lassen. Er investierte in SpitzenmusikerInnen für sein Orchester und Opernhaus und veranstaltete regelmäßige Hofkonzerte, bei welchen neben lokalen Kompositionen auch die neuesten Sinfonien aus ganz Europa auf dem Programm standen – kurzgefasst: ideale Bedingungen für einen jungen und engagierten Komponisten.

Es verwundert daher nicht, dass Beethoven in Wien weder mit seinen halbdilettantischen Orchestern noch mit seinem Publikum zufrieden war: Beide hatten aus seiner Sicht etwas aufzuholen. (John D. Wilson, 9.3.2020)