Wien ist in vielen Belangen besonders. So auch seine Bewohner. Diese profitieren in der Regel von den Vorzügen, die ihnen die Hauptstadt bietet. So fallen mir beispielsweise wenige Städte auf dieser Welt ein, die jedem Bürger ein zusätzliches Zimmer bereitstellen. Und das für lediglich ein paar Euro.

Wie, Sie glauben mir nicht? Gut, ich gebe zu, ich hätte mich etwas verständlicher ausdrücken können. Ich rede natürlich von den traditionellen Kaffeehäusern. Das immaterielle Kulturerbe Wiens ist zwar bei Touristen sehr beliebt, was allen Nichttouristen oft mehr als sauer aufstößt, aber auch eingefleischten Heimischen.

Wohnung zu klein? Dann bitte, nehmen Sie doch Platz.
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Vor kurzem erst berichtete mir eine Künstlerin: "Wenn ich nicht mehr weiß, wo ich in meiner Wohnung schreiben soll, dann gehe ich ins Kaffeehaus." Und da sie immer in dasselbe, hier nicht näher benannte, Kaffeehaus geht, ist sie natürlich auch eine wohlbekannte Person dort. Fragen nach dem Wohlbefinden, eventuellen Krankheiten und Erfolgen also inklusive.

Selbst Franz Kafka, seines Zeichens nie ein großer Fan der Hauptstadt, hielt sich zeitlebens oft im heute kaum noch besuchbaren Café Central auf.

In Wien sollte es also kein Problem sein, auf weniger Platz zu leben als üblich. Immerhin ist das nächste Kaffeehaus meist nicht sehr weit entfernt und wartet mit bequemen Polstern, guten Getränken und seiner typischen Atmosphäre auf rede- und arbeitswillige Kunden.

Das Kaffeehaus ist für viele Wiener das zweite Wohnzimmer, und damit eben ein Zimmer. Ein Schutzort, an dem Zeit anders abläuft. An dem eine Minute noch 60 Sekunden sind und keine dahergehetzte Ansammlung von Augenblicken. An dem Schreibblockaden keine Schreibblockaden, sondern Ausreden zum Kaffeetrinken sind. (Thorben Pollerhof, 06.03.2020)