Birnbacher: "Schreiben ist ja Arbeit. Die Illusion, jemals fertig zu sein, trägt einen von Text zu Text."

Foto: Bogenberger Autorenfotos

Das Schweigen saß in der Stille der Gemäuer. Auf dem Land, in der Abgeschiedenheit eines Dorfes saß es auch. Die Menschen dort haben geschwiegen. "Man spürte, dass da nichts ist", sagt Birgit Birnbacher rückblickend. Wie viele österreichische Autoren, die auf dem Land aufgewachsen sind, habe auch sie die "Nachkriegsschweigsamkeit" der Großeltern- und Elterngeneration zu spüren bekommen.

Es habe die Sprache nicht gegeben für das im und nach dem Krieg Erlebte. Aufgewachsen im kleinen Goldegg im Salzburger Land, im Großelternhaus, weiß die fünfunddreißigjährige Schriftstellerin, wovon sie spricht.

Eine natürliche Regung sei es da als Kind gewesen, in das Schweigen und die Stille hinein etwas zu sagen und zu denken. Und zu schreiben. Ein großer Teil der österreichischen Literatur sei auf diese Weise entstanden, glaubt Birnbacher. So gesehen hat sie, wie es so schön heißt, "schon immer geschrieben".

Was glücklich macht

Was das Schreiben ihr heute bedeutet, ist nicht leicht zu beantworten. Vielmehr finden sich Antworten darauf, was das Schreiben mit ihr macht. "Schreiben ist ja Arbeit. Die Illusion, jemals fertig zu sein, trägt einen von Text zu Text. Wahrscheinlich kapiere ich immer noch nicht, dass es nie aufhört", gesteht Birnbacher.

Vier Jahre hat sie an ihrem aktuellen, zweiten Roman Ich an meiner Seite gearbeitet. Nach außen hin ist nicht zu bemerken, dass diese Jahre des tagtäglichen Schreibens "den Rücken rund und das Kreuz kaputtgemacht" und zur "Vernachlässigung der Person" geführt haben.

Überhaupt ist keine damit verbundene Verrücktheit festzustellen. Das ist wahrscheinlich die Kunst. Im Kaffeehaussessel im Sonnenlicht sitzt eine dunkel-aparte, nachdenkliche Autorin. Und sie sagt schöne Dinge. Letztendlich ist es so: "Man sucht es sich nicht aus." Das Schreiben mache sie nicht glücklich, aber einzelne Sätze oder Worte schon. Sie könnten einen durchs Leben tragen.

Am Anfang waren es "Wenigseiter", die Birnbacher zustande gebracht hat. Einige Ermunterung von außen und Überzeugung von innen hat es gebraucht, dass daraus mehrseitige Buchveröffentlichungen und preisgekürte Texte wurden. 2019 gewann sie mit ihrer Einreichung den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Auf Weltreise

Von dem Wal aus ihrem 2016 erschienen Prosadebüt Wir ohne Wal, einer Porträtsammlung, war zunächst von Goldegg aus aber noch lange nichts zu sehen. Im Alter zwischen zwanzig und dreißig nimmt sie erst einmal großen Abstand von der Herkunft und geht auf Weltreisen nach dem Motto "nur weg sein".

Und wenn sie dann leise in sich hineinlacht, weiß man, dass all die Erzählungen davon gar nicht hierher passen würden. Der obige Wal nun ist weiß, kaum zu erkennen am weißen Himmel und wird erst in dem Debüt als Kunstprojekt über Salzburg schweben und seine Symbolik entfalten.

Das Buch ist erschienen, da war die Autorin schon seit ein paar Jahren in der Stadt sesshaft. Es geht darin um das Jungsein, das schöne und beängstigende. Sicher auch das eigene. Das, was Menschen von ihrem Leben erzählten, und die Art, wie sie sich darstellten, interessierten sie. Ihren mit sich ringenden Figuren lauscht sie das Lebensgefühl regelrecht ab.

Junger Mensch und gescheiterte Existenz

Eine Geschichte handelt von Marko, der etwas anstellt. Nichts Tragisches, trotzdem: Im rosa Hasenkostüm, besoffen und auf Drogen überfällt er eine Tankstelle. Er wird geschnappt und landet bei der Bewährungshilfe. Und hier lässt sich direkt zum neuen Roman Ich an meiner Seite switchen.

In diesem ist es Arthur Galleij, der dort nach Verbüßung seiner mehr als zweijährigen Haftstrafe wegen Internetbetrugs im kleinen Stil wird antreten müssen. Schwer versehrt mit gerade einmal zweiundzwanzig Jahren steht ihm das zu, was sich Resozialisierung nennt. Mit Engagement zwar, aber recht speziellen Maßnahmen vollzogen, nachdem auch Purzelbäumeschlagen dazugehört.

Birnbacher fährt ein nicht minder kauziges Personal auf und beweist damit einen ebenso dezenten wie umhauenden Witz. Arthur findet sich für ein Jahr in einer Wiener Wohngemeinschaft ein: mit gewöhnungsbedürftiger Doppelbelegung, Routinen, Feedbackrunden. Straffreiheit über diesen Zeitraum ist Voraussetzung für eine soziale und kulturelle Teilhabe, für die Chance auf Arbeit und Wohnung. Was hat Arthur denn schon vorzuweisen?

Dieser junge Mensch ist, streng genommen, bereits eine gescheiterte Existenz. Im heutzutage lebensnotwendigen Lebenslauf macht sich so eine Hässlichkeit wie eine Haftstrafe gar nicht gut. Arthurs Bewerbungsversuche scheitern, obwohl er gescheit und willens ist.

Nützlichkeit des Einzelnen

Somit ist klar, Arthur "braucht einen schönen geraden Lebenslauf. Nicht übertrieben ausgeschmückt, darum geht es nicht, aber etwas, das ihn auf den normalen Weg bringt", heißt es im Roman. Dass er es schaffen wird, weiß man leider schon auf der ersten Buchseite.

Birnbacher wirft mehrere Fragen auf: zum einen die nach der Nützlichkeit des Einzelnen in einer Gesellschaft, zum anderen jene, welche Wege dieser bereit ist zu beschreiten. Politisch relevant ist die kritische Hinterfragung der Bedingungen im Strafvollzug.

Ihr Roman bewegt sich dabei souverän zwischen den starren gesellschaftlichen Kategorien von Drin-/Draußen-Sein und Freiheit/Unfreiheit, ohne etwas schönzureden. Eine solidarische Gesellschaft, die aufhöre, zwischen nützlich und nutzlos zu unterscheiden, funktioniere für alle besser, ist sie der Ansicht. Ein Anfang sei es, mit alle auch alle zu meinen.

Ein liebenswerter Vogel

Als Autorin sowie als studierte Soziologin hat Birnbacher auch für dieses Buch wieder genau hingehört, anerkennt aber zugleich den Gegensatz zwischen Sozialarbeit und Schriftstellerei: "In der Sozialarbeit muss man sich abgrenzen, um adäquat zu arbeiten, in der Literatur kann Abgrenzung Zugänge verschließen, mitunter sogar das Schreiben ernsthaft gefährden. Das ist identitätsbildendes Glatteis."

Für ihren fiktiven Arthur gibt es nämlich eine "reale Vorlage", mit dessen Unterstützung sich der Text weiterentwickelt hat, wie der Danksagung im Buch zu entnehmen ist. Das Anliegen Birnbachers war es, "ein differenziertes Bild auf einen Straftäter zu bekommen", mit der Freiheit der Literatur.

Unser Arthur ist kein Kapitalverbrecher, ein durchaus liebenswerter Vogel ist er, der wegen eines tragischen Ereignisses, für das er sich schuldig fühlt, abgestürzt ist und sich ins Darknet verkrochen hat. Und solche wie ihn gebe es eben auch, sagt Birnbacher: "Nie ist alles so einfach, wie es aussieht. Insofern muss Literatur immer, vielleicht sogar vor allem ein Versuch gegen die Vereinfachung sein."

Ihrer Literatur gelingt das formidabel. Geschrieben ist der Entwicklungsroman mit dem Gestus der Empathie. Mit Übermut und Ernsthaftigkeit im Hinblick auf drängende Fragen. Tiefer befragt, ist Birnbacher stolz auf die Frühjahrsbücher von Frauen, die nicht nur Frauenthemen bedienten, sondern sich kraftvoll vielfältiger, politischer Themen stellten.

Aufarbeitung

Arthur hat sich nun während seiner Resozialisierung in zehn Sitzungen der erfolgversprechenden "Hauptfigurentherapie", ersonnen von seinem Therapeuten Börd, zu unterziehen, deren Prinzip ziemlich zeitgeistig daherkommt: die leuchtende, "ureigene Optimalversion" von sich selbst zu erschaffen, in die man nach Belieben "hineinschlüpfen" kann. Hauptfigur Arthur stellt Hauptfigur Arthur dar, gewissermaßen.

Börd, eigentlich Konstantin Vogl, ist noch so ein Vogel, der durch den Roman schwirrt: ein abgehalfterter Typ, stets im Mantel und mit Alkoholfahne. Birnbacher mag das Spiel mit der "Selbstbemächtigung" ihrer "davongaloppierenden" Charaktere. Arthur soll für Börd mittels "Schwarzsprechen" kurze Tonaufnahmen anfertigen, jeweils kursiv im Text abgesetzt, mit Ereignissen aus seiner Vergangenheit. Seine Aufarbeitung beginnt.

Die Geschichte selbst ist personal erzählt, lebendig und nah dran an den Figuren, bis zum Schwund des Erzählers. Virtuos handhabt Birnbacher Sprache und Sprechweisen in den Dialogen. Im Wechsel mit den Kapiteln der Erzählgegenwart, alle leserfreundlich mit Datum und Ort versehen, lenken Rückblenden in Arthurs Leben, die assoziativ mit den Tonaufnahmen verbunden sind.

Sie reichen von der vaterlosen Kindheit bis zum Absturz in Wien über die Jugendjahre in Andalusien im von Mutter und Stiefvater geleiteten Edelhospiz, wo er auf die sterbende Schauspieldiva Grazetta trifft, ein schwaches Vögelchen. In ihr verbinden sich Kunst, Wissen und Lebenserfahrung auf Arthurs Weg hin zum eigenen Lebensglück. (Senta Wagner, 7.3.2020)