Inès Bayards "Scham": "Ihr fehlt der Mut, sie hat Angst ..."

Foto: Deborah Morier

Was Inès Bayards Protagonistin passiert, ist mehr als ein Malheur: Marie ist eine 31-jährige Vermögensberaterin in einer Pariser Bank, gut situiert, verheiratet, bürgerlich. Sie wird auf dem Heimweg von ihrem Vorgesetzten brutal vergewaltigt. Und schweigt darüber.

Le malheur du bas heißt der Roman im Original und hat bei seinem Erscheinen 2018 in Frankreich viel Aufsehen erregt. Mit ihrem Debüt stand Bayard gleich auf der Longlist des Prix Gouncourt. Das Buch sei, so sagte die in Berlin lebende Französin in Interviews, in Zusammenhang mit der MeToo-Debatte entstanden.

Der Auftakt ist grandios, schnell, und vielversprechend: "Dem kleinen Thomas war keine Zeit geblieben, das Kompott aufzuessen." Gleich im ersten Kapitel wird Marie die "Frau der Lage". Der Rest der Geschichte wird in Form eines Rückblicks erzählt.

Die Erzählperspektive ist dabei eine distanzierte. Inès Bayard hat sicherlich nicht zufällig keine Ich-Erzählung gewählt. Und das ist gut so. Die allwissende Erzählstimme, die in Zukunft und Vergangenheit blicken kann, scheint dem heiklen Thema angemessen. Aber.

Nicht nachvollziehbar

Während die Einführung der Figuren noch gelingt – wir erfahren die Vorgeschichte von Marie und ihrem Mann Laurent, einem erfolgreichen Anwalt –, wird die Geschichte im Fortgang immer hölzerner. "Mein Liebling. Ja, ich will! Natürlich will ich ein Kind mit dir!" Maries Körper entspannt sich, unermessliche Freude und Erleichterung durchströmen sie. Sie hat sich noch nie so unbeschwert gefühlt, jede Faser ihres Wesens ist berauscht …"

Bayard hat sich dafür entschieden, auch die Vergewaltigung zu schildern. Es passiert mitten in Paris, in einem belebten Viertel am frühen Abend gleich nach Büroschluss in seinem Auto. "Die Hose hängt ihr noch in den Kniekehlen", als Marie aussteigt. Während sie am Hausmeister vorbeigeht, weiß sie schon, dass sie "nichts sagen wird und nie jemand von diesem Missbrauch erfährt". Das ist, so wie es hier erzählt wird, nicht nachvollziehbar.

Leider bleibt auch der Rest des Romans thesenhaft: "Ihr fehlt der Mut. Sie hat Angst, alles zu verlieren, ihren Mann, ihre Freunde zu verlieren, dass man sie verurteilt, verdächtigt zu lügen, zu übertreiben. Sie lässt es bleiben. Das Leben geht weiter." Spätestens hier sind wir beim Gemeinplatz angekommen. Der Autorin gelingt es nicht zu zeigen, sie erklärt, will uns überzeugen.

Nicht angemessen

Leider wirkt auch die Übersetzung an manchen Stellen nicht gelungen: "… vergewaltigt, ihre Scheide bis aufs Blut gebumst …", das ist unfreiwillig komisch und der Bedeutung des Themas nicht angemessen. Auch weitere Stellen klingen, zumindest in der deutschen Übersetzung, wie aus einem schlechten Fremdenverkehrsprospekt: "Der Wald von Fontainebleau schirmt die Einwohner ab, bietet Zuflucht an einem unberührten, pflanzenreichen Ort der Ruhe." Es kommt noch schlimmer.

Marie ist schwanger. "Was, wenn dieses Kind nicht seines ist?", denkt sich Laurent. Als Leserin ist man hin- und hergerissen zwischen der Tragik des Geschehens und der Unbeholfenheit der Darstellung: "Schon als Jugendlicher spürte er in sich die Stärke einer Führungskraft." Solche Sätze bringen einem die geschilderten Figuren leider nicht näher, es fehlt ihnen an Leben.

So wohlgemeint und wichtig dieses Buch von seinem Thema her ist, so sehr krankt es an der Umsetzung. In dem Reigen aufregender, zeitgemäßer und soziologisch scharf beobachtender Neuerscheinungen aus Frankreich wie Es ist Sarah von Pauline Delabroy-Allard oder Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu bleibt dieses Buch leider hinter den Erwartungen, die in den Text gesetzt wurden, zurück. (Tanja Paar, 7.3.2020)