Ingo Schulze, "Die rechtschaffenen Mörder". 21,– Euro / 320 Seiten. S. Fischer, Berlin 2020

Cover: S. Fischer

Am Anfang scheint alles klar zu sein, die Geschichte entspinnt sich fast wie ein Krimi, eins kommt zum anderen, Schicksalsschläge, Umwälzungen, schließlich: die Wende, der Absturz. Die verheißungsvolle, erlösende Wahrheit steht wie ein leuchtender Diamant vor dem Leser, zum Greifen nahe. Und dann kommt alles anders, ist alles anders, scheint alles anders.

Ingo Schulze ist ein Schriftsteller, der die literarischen Fallstricke und Hintertüren liebt. In seinem neuen Roman Die rechtschaffenen Mörder treibt er diese Finesse raffiniert auf eine neue Höhe, wo einem regelrecht schwindelig wird, die Orientierung verliert den Halt, den man sich von einem Autor wünscht, der den Leser sicher durch die Unwegsamkeiten einer aufreibenden Geschichte an ein Ziel führt.

So ist es kein Zufall, dass Schulze an einer Stelle den freien Fall, den Absturz in einem Gebirge als Todesursache wählt, ein Schlüsselereignis in dieser rätselhaften Geschichte, in der Schulze einmal mehr die gesellschaftspolitischen und kulturellen Verwerfungen im vereinten Deutschland verhandelt.

Ein schrulliger und altmodischer Kauz

Im Mittelpunkt des Romans steht Norbert Paulini, in dessen Namen bereits das Aristokratische, aber auch das Verspielte und Zauberhafte angelegt ist. Er betreibt ein Antiquariat, das er 1977 nach Armeedienst und abgebrochener BMSR-Techniker-Lehre aufbaut. Und zwar in Dresden-Blasewitz mit seinen historischen Villen und seinen bürgerlich Blasierten. Überhaupt wähnt man sich anfangs in einem DDR-Bildungsroman à la Uwe Tellkamp.

Dieser Paulini ist, so wird er im ersten Teil der Geschichte dargeboten, ein schrulliger und altmodischer Kauz, ein Antiquar mit einem äußerst antiquierten Frauenbild: "Ich will eine Frau, die mich lesen lässt, die selbst nichts lieber tut, als zu lesen, die schön ist, mich aus ganzem Herzen liebt und sich viele Kinder wünscht."

Paulini ist aber auch mit einer abgöttischen Liebe für seine Bücher und seine Arbeit ausgestattet. Er versteht sich als Bewahrer des kulturellen Geistes. In der DDR bietet er Schöngeistigen, Dissidenten und Intellektuellen einen Rückzugsort, eine Oase – in der die alten Geschichten und hohen Buchwände einen vor der Gegenwart da draußen schützen.

Im Ton der Sprache, in der Schulze die Geschichte dieses Sonderlings vorantreibt, ist unverwechselbar der Wille des Erzählers zu erkennen, eine Legende beschwören zu wollen. Erst allmählich verstärkt sich auch der Eindruck, dass aus diesem Paulini der Geist eines Reaktionärs erwächst.

Das vereinte Deutschland mit seinen kapitalistischen Regeln setzt dem Antiquar zu. Zwischenzeitlich muss er sich in einem Supermarkt verdingen, ausgesuchte Buchschätze weiß kaum noch jemand zu schätzen, schließlich rettet er den Rest seines Antiquariats in die sächsische Provinz hinüber.

Abrupter Abbruch

Die deutsche Gegenwart von Pegida, Kubitschek und AfD wird nicht explizit benannt, aber es ist die Kunst Schulzes zu verdanken, dass man sie erahnt und spürt. Die Idee, einen Antiquar in den Mittelpunkt der Geschichte zu rücken, dessen Bücher ihm als Symbol für das Schöne und Geistige gelten und der schließlich vom Schicksal geprüft wird, erinnert an Joseph Roths Meistererzählung Der Leviathan.

Dann, als der Leser die zu erwartende tragische Wendung der Geschichte erahnt, bricht sie abrupt ab. Und es taucht ein weiterer Erzähler auf, der sich nur durch das "t" in Nachnamen von Ingo Schulze selbst unterscheidet. Offensichtlich berichtet nun der Autor des vorangegangenen Manuskripts von seiner Beziehung zu diesem Paulini und auch zu seiner vielleicht etwas zu verworrenen Beziehung zu einer Frau, die Paulinis Assistentin (und, wie sich später herausstellt, sogar dessen Frau war).

Es wird klar, dass der Erzähler selbst ein Bewunderer Paulinis ist und ihm deswegen ein Denkmal setzen will, aber mit seiner Heiligenschrift hadert, da sich sein Held als "Monster" entpuppt, was aber an keiner Stelle des Romans wirklich genauer ausstaffiert wird. Im dritten Teil wird dem Rätsel um Paulini schließlich eine weitere überraschende Perspektive hinzugefügt.

Das Nebulöse einer Geschichte, die Täuschung durch einen möglicherweise befangenen Autor und die unterschiedliche Rezeption einer möglichen Wahrheit sind weitere Themen, die neben den zeitgeschichtlichen Konflikten in diesem völlig überraschenden Roman eingeflochten sind. Als Leser bewegt man sich durch die Geschichte wie durch ein Spiegelkabinett, in dem einem unterschiedliche Perspektiven auf das eigene Denken und Weltbild vorgeführt werden.

Ost und West, Stadt und Provinz, liberale Künstlerkreise und reaktionäre Abgründe, gut und böse. Es geht um gegenseitige Ressentiments und die Frage, wie oberflächliche Bilder von komplexen Biografien entstehen, und unsere durch die sozialen Medien befeuerte Lust, diese Bilder zu beschwören und zu zerstören. Wer nun die rechtschaffenen Mörder sind, muss der Leser für sich entscheiden. So ist die Ambivalenz als Gut einer demokratischen Kultur vielleicht die wahre Heldin dieses meisterhaften Romans.(Ingo Petz, 7.3.2020)