Ausgezeichnete Planerinnen: Yvonne Farrell und Shelley McNamara von Grafton.

Fotos: Hyatt Foundation, Dennis Gilbert, Iwan Baan, Federico Brunetti

Shelley McNamara, eine Stimme wie in einem dramatischen Hörbuch, blickt nachdenklich, fast schon weltschmerzlich betrübt in die Kamera. "Es gibt den einen ganz bestimmten Typ Kunden", sagt sie, "der hat einen Traum, der hat einen gewissen Ehrgeiz, der hat eine Sensibilität und einen Sinn für Großzügigkeit den künftigen Nutzern gegenüber. Wir sind genauso. Wir sind nicht in der Lage, Architektur ohne Mut und ohne Esprit zu machen. Wir sind Humanistinnen und Architektinnen bis ins letzte Molekül unserer Existenz."

Yvonne Farrell, hochgezogene Augenbrauen, als würde sie gerade die Zustimmung ihres Gegenübers einfordern, im College Park in der Dubliner Innenstadt unter einem Baum stehend: "Alles, was wir Planer und Planerinnen angreifen, hat ganz konkrete Auswirkungen auf die Erde. Und deswegen ist jeder Handgriff mit einer enormen ökologischen Verantwortung verbunden, aber auch mit einer Verpflichtung, die Welt so schön wie möglich zu gestalten. Alles, was wir der Natur wegnehmen, müssen wir ihr in gewisser Weise auch wieder zurückgeben."

Große Worte. Doch nachdem sich die feinstoffliche, von Demut gezeichnete Geisteshaltung der beiden irischen Architektinnen nicht nur auf die Theorie beschränkt, sondern auch in der gebauten Praxis seit vier Jahrzehnten Niederschlag findet, wurden Shelley McNamara (68) und Yvonne Farrell (69), die in Dublin gemeinsam das Büro Grafton leiten, mit dem Pritzker-Preis 2020 ausgezeichnet, wie am Dienstagnachmittag bekanntgegeben wurde. Damit geht der sogenannte "Nobelpreis der Architektur", den die in Chicago ansässige Hyatt Foundation seit 1979 jährlich vergibt, erstmals an ein Frauenduo.

Universität von Toulouse
Fotos: Hyatt Foundation, Dennis Gilbert, Iwan Baan, Federico Brunetti

In den ersten 40 Jahren seines Bestehens wurden erst drei Architektinnen damit ausgezeichnet, wobei neben Kazuyo Sejima (Sanaa, Japan) und Carme Pigem Barceló (RCR Arquitectes, Spanien) die 2016 verstorbene Zaha Hadid die einzige Frau ist, die den mit 100.000 US-Dollar dotierten Architekturpreis als Alleinfrau ohne co-männliche Partnerschaft entgegennehmen durfte.

In den letzten Jahren wurde die Kritik an der maskulinen Dominanz in der Galerie der Pritzker-Preisträger und an der Ausblendung einer ganzen Gesellschaftsgruppe immer lauter. Kein Wunder also, dass sich die Jury nun endlich besann und heuer gleich zwei Chefarchitektinnen aufs Siegerpodest stellt.

"Ich habe es immer als Privileg empfunden, diesen Job aus der Sicht der Frau auszuüben", sagt Yvonne Farrell. "Wir haben uns seit unserer Bürogründung 1978 mit Fragestellungen beschäftigt, die im männlich dominierten Milieu damals noch nicht so selbstverständlich und en vogue waren, wie sie es heute sind: Soziales, Kommunikation, menschliche Beziehungen, Verhältnis des eigenen Körpers im Raum, die Liebe zum kleinen Maßstab und die Fähigkeit, sich an Bestehendes, an bereits existierende Werte und Geschichten anzupassen." Damals, meint Farrell, habe man solche Qualitäten noch als dezidiert frauenspezifisch wahrgenommen.

Medical School at the University of Limerick
Fotos: Hyatt Foundation, Dennis Gilbert, Iwan Baan, Federico Brunetti

Dass Grafton – die Bürobezeichnung leitet sich übrigens vom Straßennamen des ersten Bürostandorts ab – nicht im Geringsten eine weiche, vermeintlich feminine Handschrift an den Tag legt, beweist ein Blick auf die bislang rund 40 realisierten Projekte in Irland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Peru.

Die Bauwerke strotzen nur so von Beton, die Gesten sind formgewaltig und schaffen spektakuläre urbane Freiräume an der Schnittstelle zwischen innen und außen. Bei manchen Blickwinkeln durch Säulenwälder und Pfeilerlandschaften, vorbei an getreppten Böden und geneigten Dachplatten, muss man sich erst einmal orientieren und das gefällte Urteil von Horizontalität und Vertikalität neu überdenken.

"Wir hören oft, dass unsere Bauten wuchtig sind", sagt Yvonne Farrell, "aber das ist sehr relativ. Der spanische Architekt Alejandro de la Sota, eine der Schlüsselfiguren der iberischen Moderne, hat einmal gesagt, die Aufgabe von Architekten sei es, so viel Nichts wie möglich zu bauen. Schauen Sie sich nur einmal eine japanische Teeschale an! Die Lippen berühren nur einen Hauch von millimeterdünnem Material. Es ist der leere Raum innerhalb der Schale, die die Schönheit dieses Gefäßes ausmacht. So ist es auch mit unseren Gebäuden."

UTEC-Universitätscampus in Lima
Fotos: Hyatt Foundation, Dennis Gilbert, Iwan Baan, Federico Brunetti

Zu den auffälligsten und international mit Abstand am stärksten rezipierten Projekten, die oft wie soziale Maschinen der menschlichen Begegnung im Stadtraum platziert sind, zählen die Università Luigi Bocconi in Mailand (2008), die Medical School University of Limerick (2012), der UTEC-Universitätscampus in Lima (2015) sowie das Institut Mines Télécom in Paris-Saclay, das letztes Jahr fertiggestellt wurde.

Aktuell arbeiten die beiden am zwölfgeschoßigen Marshall Building der London School of Economics and Political Science, einem aufregenden Luftraum-Tetris aus Glas und Beton, geplante Fertigstellung Anfang 2021.

"Wir wollten eigentlich immer lokal und regional arbeiten und haben uns mit unseren Kindergärten, Grundschulen und Universitäten bis 2008 immer auf Irland fokussiert", sagt Yvonne Farrell, "aber mit der Wirtschaftskrise, die wie eine schwarze Wolke über dem Land lag, mussten wir um unsere Existenz kämpfen und haben begonnen, an internationalen Architekturwettbewerben teilzunehmen. Wir hatten damals eine gute Siegerquote. Das hat uns gerettet." Auf dem internationalen Parkett waren die beiden Grafton-Damen auch in Venedig, als sie die Direktion der Architektur-Biennale 2018 übernahmen.

Università Luigi Bocconi in Mailand
Fotos: Hyatt Foundation, Dennis Gilbert, Iwan Baan, Federico Brunetti

Genau diese Flexibilität, sich zwischen lokaler und globaler Welt, zwischen sehr kleinen Einfamilienhäusern und sehr großen Bildungslandschaften zu bewegen, sei für die Ernennung der diesjährigen Pritzker-Laureatinnen ausschlaggebend gewesen, heißt es im Juryprotokoll.

"Shelley McNamara und Yvonne Farrell zeigen unglaubliche Stärke in ihrer Architektur, zeigen in jeder Hinsicht eine tiefe Beziehung zur Vor-Ort-Situation, reagieren unterschiedlich auf jede Bauaufgabe und bewahren in ihrer Arbeit gleichzeitig die für sie typische Ehrlichkeit und Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft."

Mit der Pritzker-Auszeichnung an Grafton hat sich die Hyatt Foundation endlich aus ihrem eigenen Bann befreit und Verantwortung gegenüber der weltweiten Architektinnenschaft übernommen. (Wojciech Czaja, 6.3.2020)