Bis zum letzten Moment wurde gekämpft: Seit Donnerstagmitternacht gilt in Idlib eine Feuerpause, die weitgehend – aber nicht flächendeckend – eingehalten wird.
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Ein neuer Waffenstillstand für die umkämpfte Provinz Idlib? Worauf sich die Präsidenten Wladimir Putin und Tayyib Erdoğan am Donnerstagabend in Moskau geeinigt haben, ist eher als neuer russisch-türkischer Burgfrieden in Syrien zu bezeichnen. Aber wenn alles gutgeht, verschafft er der Zivilbevölkerung, die unter den mit russischer Unterstützung geführten Angriffen des syrischen Regimes leidet, eine längere Atempause. Die Türkei und Russland haben jedoch vor allem einmal für sich selbst den eingeschlagenen Weg zu einer möglichen direkten militärischen Konfrontation gestoppt. Eine nachhaltige Lösung für Idlib bedeutet das nicht.

Das in sechsstündigen Verhandlungen erreichte Ergebnis wird in den nächsten Tagen noch im Detail ausgearbeitet. Im Wesentlichen enthält es die Einstellung der Kämpfe entlang der aktuellen Frontlinien und die Errichtung eines Sicherheitskorridors von jeweils sechs Kilometern südlich und nördlich entlang eines Abschnitts der Autobahn M 4 Latakiya–Aleppo. Er soll ab 15. März von Russen und Türken gemeinsam patrouilliert werden.

Die M 4 verläuft durch Rebellengebiet, und das syrische Regime stellt die Offensive gegen dieses Gebiet ein: Dennoch bedeutet es eine türkische Konzession, dass die Russen künftig an der M 4 präsent sein werden. Das war wohl eine Bruchstelle für Moskau, das die Angriffe auf seine Militärbasis in Khmeimim aus dem Rebellengebiet abstellen will. Auf die Details zu den Regeln, die im Korridor und auf der M 4 herrschen werden, muss man noch warten.

Beide Seiten – Russland im Namen von Damaskus – haben Zugeständnisse gemacht. Die maximalistischen Erwartungen von türkischer Seite, zur Situation vor Beginn der letzten Regimeoffensive zurückzukehren, haben sich ordentlich zerschlagen. Die Abmachung bestätigt die syrischen Geländegewinne, am wichtigsten die Kontrolle über die Autobahn M 5 Damaskus–Aleppo. Aber es verleiht der türkischen Präsenz in Idlib, so wie es schon vorher im Norden Syriens geschehen ist, im verbleibenden Rebellengebiet einmal mehr einen russischen Stempel der Legitimität. Und die türkische Armee sitzt nun viel tiefer in Idlib, als das vor der Offensive der Fall war.

Damit ist es der Türkei und Russland einmal mehr gelungen, ihren gemeinsam geschlagenen Spagat zu retten: dass sie in Syrien auf unterschiedlichen Seiten stehen und dennoch diplomatisch zusammenarbeiten. Folgerichtig wird der neue Deal als "Zusätzliches Protokoll" zum "Memorandum zur Stabilisierung der Lage in Idlib" klassifiziert, auf das sich Erdoğan und Putin im September 2018 in Sotschi geeinigt hatten. Davon ist zwar nicht mehr viel übrig – die Rebellen haben viel Territorium an Assad verloren, und die Türkei hat nicht, wie damals versprochen, die Al-Kaida-nahe Gruppe HTS neutralisiert –, aber die Grundlage bleibt die gleiche, die im Astana-Prozess ab 2017 erarbeitet wurde.

Es geht nicht nur um Idlib

Mit einem Zusammenbruch in Idlib musste die Türkei befürchten, dass Russland auch die gemeinsamen Arrangements an der syrisch-türkischen Grenze im Norden infrage stellt. Es ging für Ankara also nicht nur um Idlib, sondern um die türkische Präsenz in Syrien überhaupt, die von einem Gemisch aus Sicherheitsinteressen – für die Russland Verständnis zeigt – und neoosmanischer Machtprojektion bestimmt wird. Und auch wenn die Flüchtlinge aus den vom Regime bereits eingenommenen Gebieten nicht mehr dorthin zurückkönnen: In die restlichen Rebellengebiete könnten sie heimkehren – wobei auch hier humanitäre Hilfe dringend nötig sein wird. Außer vor den Flüchtlingen hatte Ankara natürlich auch Angst vor dem Überschwappen jihadistischer Kräfte, die sich unter die Zivilbevölkerung mischen.

Putin hingegen hat die Gefahr gebannt, dass Erdoğan, den er in den vergangenen Jahren geschickt engagiert gehalten hat, vollends an den Busen der Amerikaner und der Nato zurückkehrt. Der Westen tut sich mit der Situation schwer: Einerseits sind fast alle der Meinung, dass die türkische Präsenz in Syrien völkerrechtlich nicht gedeckt ist. Andererseits sieht man ja auch das syrische Regime nicht als legitim an.

Pikanterie der Geschichte: Katherina die Große wachte über die verhandlungen zwischen Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan.
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Bashar al-Assad wird es nicht freuen, dass er den Preis für den russisch-türkischen Burgfrieden zahlen muss, indem er die Offensive einstellt. Andererseits wurde gerade in den letzten Tagen eine militärische Ermüdung der Regimeseite deutlich, trotz der – wahrscheinlich von Russland verursachten – türkischen Verluste. Assad kann sich auch damit trösten, dass einmal mehr die territoriale Integrität Syriens betont wird. Was jedoch nichts darüber aussagt, wann er wirklich wieder das gesamte syrische Territorium kontrollieren wird.

Liebhabern der Geschichte entging nicht, dass in dem Raum, in dem Putin und Erdoğan ihre Einigung bekanntgaben, auch eine stattliche Dame in Form einer Statue weilte: Katherina die Große, die im Russisch-Türkischen Krieg (1768–1774) das Osmanische Reich gehörig gerupft hatte: Unter anderem ging damals die Krim, die zuvor ein Vasall der Pforte gewesen war, an das Zarenreich. Bei einem Besuch in Kiew Anfang Februar hatte Erdoğan explizit die ukrainische Souveränität über die Krim betont. (Gudrun Harrer, 6.3.2020)