Er hat in der Eile nicht einmal ein T-Shirt angezogen, so schnell ist er hinunter zum Hafen gelaufen, als ihn sein Cousin anrief. Der 14-jährige Zakir Ullah bibbert nun in seinem dünnen Trainingsanzug, seine Hände zittern leicht, als er sich an dem Eisenzaun festhält. Er kann, wenn er durch die Gitterstäbe starrt, seinen Cousin, der gerade auf Lesbos angekommen ist, einfach nicht ausmachen. Die etwa 500 Migranten, die auf dem Hafengelände von Mytilini auf Lesbos seit einer Woche ausharren, sind zu weit entfernt von ihm, etwa 150 Meter. Er kann nicht zu ihnen, sie können nicht zu ihm.

Zakir Ullah versucht im Hafen von Mytilini einen Blick auf seinen Cousin zu erhaschen.
Foto: Adelheid Wölfl

Lesbos ist schon seit Jahren ein Ort der Gnadenlosigkeit. Etwa 20.000 Migranten und Flüchtlinge warten hier im Lager Moria in selbstgebauten Hütten unter Plastikplanen monatelang, manche jahrelang, bis sie ihren Asylantrag stellen können und einen Bescheid bekommen. Im Winter, in der Kälte, im Schlamm, werden viele schwer krank. Diese Schutzlosen haben es allerdings noch besser als die Entrechteten hinter dem Eisenzaun. Denn sie können wenigstens darauf hoffen, irgendwann einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Die Menschen hinter dem Eisenzaun am Hafen von Mytilini nicht. Sie sollen laut der griechischen Regierung einfach möglichst schnell in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden. Lesbos ist nun ein Ort des Unrechts geworden.

Zumindest whatsappen

In keinem anderen Land der EU wurde jemals die Möglichkeit, um Asyl anzusuchen, ausgesetzt. Griechenland hat dies nun getan, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan damit gedroht hatte, "Millionen" von Migranten über die Grenze ins Nachbarland zu schicken.

Zakir Ullah kann mit seinem Cousin zumindest whatsappen. Weiß er, dass er unverzüglich nach Afghanistan abgeschoben werden soll? "Nein, ich sage ihm das nicht, sonst verzweifelt er", meint der 14-jährige Bub. Neben Afghanen befinden sich auch viele Afrikaner und syrische Familien hinter dem Eisenzaun.

Erst müssen die Menschen auf ein Kriegsschiff, dann wieder zurück an Land.
Foto: Adelheid Wölfl

Polizisten fordern die Flüchtlinge auf, sich in Reihen von 20 Leuten hintereinander aufzustellen. "In einer Linie", ruft eine Polizistin, als ein paar Kinder weglaufen. Im Gänsemarsch müssen die Flüchtlinge nun in den Bauch des riesigen militärgrünen Marineschiffs hineingehen, das seit Tagen im Hafen liegt. Die Prozedur dauert eine Weile. Es sieht so aus, als würden die LI17, so heißt das Schiff, mit ihren Passagieren auslaufen. Doch plötzlich werden die Migranten wieder herausgelassen – und die Kinder spielen wieder mit den Hunden, die zwischen den Eisenzäunen durchschlüpfen können.

Bruder verschwunden

Offensichtlich weiß die griechische Regierung noch nicht genau, was sie mit ihren neu geschaffenen Entrechteten machen soll. Am Hafen stehen einstweilen drei Stadtbusse, in denen die Migranten schlafen können.

Zakir Ullah selbst ist vor sieben Monaten mit seinem 16-jährigen Bruder Zabi aus Kunduz über die Türkei nach Lesbos gekommen. Im Oktober hat sich dann sein Bruder hier in einer der großen Fähren versteckt, die Richtung Athen gehen. Dort verliert sich seine Spur. Zakir versucht seither, seinen Bruder zu finden. Er selbst will auch ans Festland. "Hier kann ich nur zwei Stunden Unterricht pro Tag bekommen", erzählt er. "Und da lerne ich auch nur Griechisch. Ich möchte aber gut Englisch lernen", meint der Bub.

Angst vor Faschisten

Tatsächlich gibt es für die tausenden Flüchtlingskinder auf Lesbos praktisch keine Kindergärten und Schulen, keine Spielplätze und keine sauberen Klos oder Duschen. Die Lager sind völlig überfüllt – in den kommenden Tagen sollen zumindest 2.000 Leute von der Insel aufs Festland gebracht werden, nämlich jene, die schon länger als zwei Jahre hier sind.

Rund 20.000 Menschen leben derzeit im Lager Moria unter harten Bedingungen.
Foto: Adelheid Wölfl

Zakir fürchtet sich zudem vor den Faschisten, wie die Rechtsradikalen hier von vielen genannt werden. Er zeigt auf seinem Handy ein Foto von zwei Typen mit hochrasierten Hinterköpfen. Die Rechtsradikalen sind ein großes Thema auf Lesbos, seit ein deutscher Fotograf kürzlich auf dem Pier des Ortes Termis von ein paar Männern verprügelt wurde, als er fotografierte, wie Leute versuchten, ein Schlauchboot voll Migranten aus dem Hafen zu drängen.

Brand im Lager einer NGO

Vor einer Woche wurde ein Transitlager für Flüchtlinge im Norden der Insel angezündet. Samstagnacht brannte die Lagerhalle einer Schweizer Hilfsorganisation völlig ab – die Polizei untersucht die Ursachen. In den vergangenen Wochen wurden auch Vertreter von Hilfsorganisationen von Extremisten angegriffen. Auch Flüchtlinge berichten von gewaltsamen Attacken. Die Stimmung im Lager Moria ist deshalb angespannt. Auf der Straße unterhalb der Olivenhaine laufen ein paar Jugendliche einem wutentbrannten Mann hinterher, der mit einem Stock herumfuchtelt. "Diese Faschisten prügeln jeden Tag auf uns Flüchtlinge ein", ruft er empört.

Auf dem Hauptplatz von Mytilini haben sich indessen jene Bürger der Stadt eingefunden, die gegen Hass und Gewalt gegen Flüchtlinge, Hilfsorganisationen und Journalisten demonstrieren. Auch sie erzählen von jungen Männer, die sich selbst "Die Patrioten" nennen und die immer wieder Autos und Personen aufhalten und sie bedrohen. Die 29-jährige Maria S. erzählt, dass sich die Stimmung gedreht habe, seit die Regierung schwer bewaffnete Sonderpolizei auf die Insel geschickt hatte, um den Bau eines neuen, geschlossenen Lagers zu erzwingen.

Angst vor australischem Modell

Die Insulaner kämpften wütend dagegen an. Tatsächlich haben viele Angst, dass Lesbos so etwas wie das Manus der EU werden soll. Manus ist eine Insel in Papua-Neuguinea, auf die Australien Flüchtlinge, die auf den fünften Kontinent wollen, abschiebt. Manus ist so zu einer Gefängnisinsel geworden – die dort Gestrandeten haben keine Möglichkeit, nach Australien zu gelangen. Mittlerweile hat die griechische Regierung offenbar klein beigegeben. Das geschlossene Zentrum soll nun auf dem Festland bei Serres gebaut werden.

Das Bildungsangebot für Kinder und Jugendliche in Moria ist dürftig, die Zeit wird auf andere Weise überbrückt.
Foto: Adelheid Wölfl

Einige Frauen halten trotzdem hier in Mytilini ein Plakat in ihren Händen, auf dem steht: "Kein neues geschlossenes Camp". Andere schimpfen auf den griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis, sie fühlen sich von ihm im Stich gelassen. Alle fordern, dass die Migranten und Flüchtlinge aufs Festland transportiert werden sollen. Viele meinen, dass sie doch von Deutschland aufgenommen werden könnten.

Stellvertreterkriege der Extremisten

Unter die griechischen Demonstranten haben sich auch ausländische Linke gemischt, ein paar von ihnen haben sich vermummt. Die Sonderpolizei steht einsatzbereit in den Gassen der schönen kleinen Altstadt und am Kai. Griechenland ist zum Schauplatz politischer Extremisten geworden, die hier ihre Stellvertreterkriege austragen. Manche von ihnen sprechen Deutsch, andere Französisch.

Die hygienischen Zustände in Moria sind trist.
Foto: Adelheid Wölfl

Bereits am Mittwoch reisten Rechtsextremisten der Identitären Bewegung mit dem Auto nach Griechenland ein – auch Österreicher waren dabei. Sie twitterten Bilder mit einer griechischen und österreichischen Flagge, dazu der Text, der offenbar an die Migranten gerichtet war: "No way – You will not make Europe your home". Die Extremisten wurden mittlerweile des Landes verwiesen.

Kaum mehr Anlandungen

In den vergangenen Tagen sind kaum mehr Gummiboote von der nahe gelegenen türkischen Küste hierher nach Lesbos gekommen, obwohl Erdoğan zu dem Zeitpunkt noch keine diesbezüglichen Anweisungen gegeben hat. Dafür tauchte ein Video auf, auf dem zu sehen ist, wie ein Schlauchboot mit Migranten durch die hohen Bugwellen eines Schiffs der griechischen Küstenwache abgedrängt werden soll. Ein Sicherheitsmann auf dem Schiff gibt Warnschüsse ins Wasser ab, dann wird das Schlauchboot mit einem langen Stecken von einem anderen Mann weggestoßen.

Solche Bilder und Videos gehören in der aufgeheizten Streit zwischen der Türkei und Griechenland freilich auch zum Propaganda-Arsenal. Dennoch gab es schon früher Gerüchte, dass Schlauchboote von der griechischen Küstenwache durch Bugwellen zurückgedrängt werden.

Versprechen von Freiheit

Am Hafen von Mytilini haben sich in der Zwischenzeit ein paar andere Migranten aus dem Lager Moria zu Zakir Ullah gesellt. Sie alle haben Verwandte auf der anderen Seite des Zauns. Viele stehen unter der an dieser Stelle errichteten Freiheitsstatue, weil man hier vom erhöhten Sockel einen besseren Blick zum Schiff da drüben hat. Die Freiheitsstatue wurde 1930 aufgestellt und ist den Opfern des Ersten Weltkriegs gewidmet. Sie ist vom Meer aus schon von weitem gut zu sehen.

Als 1886 ihre ältere Schwester in New York eingeweiht wurde, meinte ein griechischer Einwanderer, der sie bei der Ankunft in den USA erstmals erblickte: "Ich sah die Freiheitsstatue. Und ich sagte zu mir: 'Lady, du bist eine solche Schönheit! Du hast deine Arme geöffnet und bringst alle Ausländer hierher. Gib mir eine Chance zu beweisen, dass ich es wert bin, etwas zu tun, um in Amerika jemand zu sein.'" Auch die Statue in Mytilini hält symbolhaft eine Fackel in der Hand, das Symbol dafür, das jeder eine Chance bekommen soll.

Zeichen von Menschlichkeit

Die Migranten diesseits und jenseits der Absperrungen rufen und winken einander zu. Einige haben Plastiksackerln mit Essen oder Kleidung mitgebracht, die sie ihren Lieben bringen wollen. Nach einiger Zeit erbarmt sich einer der griechischen Polizisten, hievt die Geschenke über den Zaun und bringt sie zu den Entrechteten auf der anderen Seite. Es ist ein kleines Zeichen von Menschlichkeit unter den Augen einer Freiheitsstatue, die ihr Versprechen hier nicht mehr einhalten kann. (Adelheid Wölfl aus Lesbos, 8.3.2020)