Wenn Paolo Giordano in seinem Leitartikel für den Corriere della Sera über die vernächlässigte Zeitachse der Corona-Epidemie schreibt, nennt er Tatsachen beim Namen, die viele von uns nicht hören wollen. Der bisherige Verlauf der Corona-Epidemie macht es nur zu einer Frage der Zeit, bis die Epidemie auch außerhalb Norditaliens vollends durchschlägt. Es ist alles nur eine Frage der Zeit, und wir befinden uns eben im Vergleich mit China, im Vergleich mit Norditalien, auf der Zeitachse noch etwas im Rückstand. Deshalb jedoch zu glauben, dass die Epidemie unser schönes Österreich weitgehend verschonen könnte, ist nichts anderes, als auf das Prinzip Hoffnung zu setzen. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache.

Was zu tun ist, ist die Ausbreitung der Epidemie so gut wie möglich zu bremsen. Zu bremsen, bis die Grippewelle vorbei ist, und in unseren Spitälern wieder Ressourcen frei werden für Coronapatienten. Zu bremsen, bis ab Mitte Mai hoffentlich die Sonne und das wärmere Wetter die Ausbreitung des Virus verlangsamen werden. Bis im Sommer dieses Jahres die ersten wirksamen Medikamente, die derzeit bereits klinisch getestet werden, auf den Markt kommen. Und bis 2021 dann voraussichtlich endlich eine Impfung gegen das Coronavirus frei verfügbar sein wird, und durch eine möglichst hohe Durchimpfrate der Bevölkerung die Epidemie beendet, sowie der Virus weitgehend ausgemerzt werden kann.

Gute und schlechte Nachrichten

In Summe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte Nachricht, dass die Epidemie in den kommenden Tagen und Wochen voraussichtlich auch bei uns verstärkt auftreten wird. Die gute Nachricht, dass es im Wesentlichen einmal um ein paar Wochen geht, die wir überstehen müssen, bis eine Verbesserung der Situation in Sicht ist.

Nichtsdestotrotz bleibt die Frage, was tun in der Zeit bis zur erhofften Verbesserung der Lage? Die derzeitige Strategie der Behörden setzt primär darauf, die Einschleppung und Verbreitung des Virus in Österreich zu verlangsamen. Zusätzlich werden auch stichprobenartige Zufallstests von Blutproben auf Covis-19-Infektionen vorgenommen, um mögliche "versteckte Herde" frühzeitig erkennen zu können. Im Fall einer weiteren Verschlechterung der Situation wird die allgemeine Schließung von Schulen und Kindergärten diskutiert, und im Fall des Falles die Abschottung ganzer Ortschaften oder Regionen, sofern ein lokaler Ausbruch – wie in Italien derzeit – nicht mehr kontrolliert werden kann.

Quarantäne ganzer Ortschaften oder Regionen nur im äußersten Notfall

Die Quarantäne ganzer Ortschaften oder Regionen ist zweifelsohne eine extreme Maßnahme, und sollte nur im schlimmsten aller Fälle ausgesprochen werden. Sie ist bei weitem keine perfekte Maßnahme, und hat, wie gerade jetzt in Italien sichtbar geworden ist, auch viele unerwünschte Nebenwirkungen. Womöglich wurde durch die soeben verordneten Quarantänemaßnahmen für ganze Provinzen und Regionen Italiens, darunter mit der Lombardei einer der größten Wirtschaftsmotoren Italiens und Europas, die Ausbreitung der Epidemie noch einmal beschleunigt. Soviel ist sicher: Der im Zuge der Quarantänemaßnahmen eingetretene Exodus der Bürger aus den Quarantänezonen in Richtung Süditalien hat noch einmal zur Ausbreitung der Epidemie auch auf bislang noch weitgehend verschonte Regionen im Süden Italiens beigetragen.

Eins der obersten Ziele in diesen Zeiten muss lauten, das öffentliche Leben so lange wie möglich, und mit so wenig Einschränkungen wie möglich aufrecht zu erhalten. Das eine Problem sind am Coronavirus erkrankte Personen, das andere Problem jedoch sind tausende Arbeitslose im Zuge eines Wirtschaftseinbruchs durch die Coronaepidemie, Produktions- und Versorgungsengpässe, oder Einschränkungen von (lebens-)wichtigen Dienstleistungen der öffentlichen Hand. In anderen Worten: Drastische Maßnahmen gegen die Coronaepidemie führen zu zahlreichen unerwünschten Nebenwirkungen. Wie auch in der Medizin gilt also in jedem Fall, die positiven Effekte von Maßnahmen, wie zum Beispiel der Einschränkung der Bewegungsfreiheit großer Bevölkerungsteile, gegen die dadurch hervorgerufenen, unerwünschten Nebenwirkungen abzuwägen.

Und genau aus diesem Grund sollten wir von den Entwicklungen in China und Italien lernen, und uns die Frage stellen, welche linderen Maßnahmen wir allenfalls noch treffen könnten, um einer Ausbreitung der Epidemie zu begegnen, und vor allem um drastische Maßnahmen in unseren Breiten möglichst zu vermeiden.

Maßnahmen gegen die Tröpfcheninfektion: Von Spitälern lernen

Wir wissen heute mit relativer Sicherheit, dass der Hauptübertragungsweg von Coronaviren entweder im direkten Körperkontakt, oder in der Tröpfcheninfektion besteht. Der direkte Körperkontakt ist relativ einfach zu vermeiden, bei der Tröpfcheninfektion sieht es jedoch ganz anders aus. Sowohl beim Nießen, Husten als auch Sprechen werden über den Mund beziehungsweise die Nase Tröpfchen freigesetzt, die einerseits direkt auf anderen Personen landen, und diese dann über den Umweg der Augen oder der Schleimhäute infizieren können. Oder aber diese Tröpfchen landen auf Oberflächen wie Türklinken, Einkaufswägen, Haltegriffen, wo sie im schlimmsten Fall bis zu neun Tage lang überleben können. Andere Personen, die diese infizierten Oberflächen mit den eigenen Händen berühren, und diese dann zu den Augen oder den Schleimhäuten führen, können sich auf diesem Weg ebenso infizieren.

Für diese Art der Tröpfcheninfektion werden in der Medizin seit vielen Jahrzehnten im Wesentlichen zwei Schutzmaßnahmen empfohlen: Handschuhe und Gesichtsmasken über Mund und Nase, zusätzlich die regelmäßige Händedesinfektion.

Handschuhe schützen selbst vor direktem Hautkontakt mit infektiösen Personen oder Oberflächen, und sie stellen vor allem auch ein wichtiges (psychologisches) Hindernis davor dar, die eigenen Hände zu Mund, Nase und den Augen zu führen.

Schutzmasken schützen vor allem dann, wenn sie von allen getragen werden

Schutzmasken schützen nur in geringem Maße vor der Infektion über Tröpfchen von anderen Personen; vor allem aber schützen sie sehr effizient andere Personen (und Oberflächen) vor infektiösen Tröpfchen von einem selbst, indem sie verhindern, dass wir diese Tröpfchen beim Sprechen, Husten oder Nießen von uns geben. Schutzmasken haben also ein Problem, das wir in der Ökonomie auch als "moral hazard" bezeichnen: Der einzelne hat keinen Anreiz, solche Schutzmasken selbst zu tragen, da sie einen selbst nicht wirklich schützen. Masken schützen primär die anderen vor einem selbst. Der persönliche Schutz durch Schutzmasken funktioniert also nur dann, wenn alle anderen Schutzmasken tragen. In anderen Worten: Schutzmasken schützen nur dann, wenn sie wirklich von allen Personen getragen werden. Dann schützen Schutzmasken jedoch auch wirklich gut.

Das Ganze kann also nur funktionieren, wenn das Tragen von Gesichtsschutzmasken an bestimmten Orten für alle zwangsweise vorgeschrieben wird. Bislang stand bei Gesichtsschutzmasken eher die Befürchtung im Vordergrund, die Öffentlichkeit durch solche Maßnahmen zu sehr zu beängstigen. Im Vergleich zu einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit oder gar Quarantänemaßnahmen für ganze Ortschaften oder Regionen ist das zwangsweise Tragen von Handschuhen und eines Mund-Nasenschutzes an bestimmten, besonders belebten Orten wie Geschäften, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Wartezimmern jedoch das deutlich gelindere, und auch wesentlich effektivere Mittel. Und es muss ja nicht immer die chirurgische Gesichtsmaske sein, oder OP-Handschuhe, auch das über Mund- und Nase gezogene Halstuch, gemeinsam mit den Lederhandschuhen aus dem Auto erfüllt im Wesentlichen seinen Zweck.

Zeit, über den Schatten zu springen

Natürlich stellen solche Maßnahmen eine bislang unbekannte Zäsur unserer allgemeinen Lebensweise dar. Aber die Situation ist einmal, wie sie ist, und wir müssen den Tatsachen nüchtern ins Auge blicken. Und bevor wir unsere allgemeine Bewegungsfreiheit aufs Spiel setzen, sollten wir ernsthaft eine zumindest vorübergehende Umstellung unserer Lebensgewohnheiten in Betracht ziehen. Und dazu zählen nunmal neben der Grundregel, bei Schnupfen und Husten generell zuhause zu bleiben, egal ob Corona oder nicht, auch einmal Hand- und Mund-Nasenschutz an belebten Orten, gemeinsam mit regelmäßiger Händedesinfketion. Und zwar jetzt sofort, nicht erst dann, wenn es schon zu spät ist. (Michael Radhuber, 10.3.2018)

Nachtrag 18.3.2020, Virologe Christian Drosten zu (selbstgemachten) Masken: "Müsste aus gesellschaftlichem Druck heraus jeder und jede eine Maske tragen, dann fange die Maßnahme an sehr sinnvoll zu sein: Dann sei zu erwarten, dass eine Infektionsausbreitung etwas verringert werde – allerdings nur im Nahbereich, so Drosten." mehr dazu

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