Für manche ist schwer fassbar, was sich derzeit an den Börsen abspielt.

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Die Finanzmärkte würden zwar zur Übertreibung tendieren, die Folgen der massiven Schwankungen sollten aber nicht überbewertet werden, meint Heiner Flassbeck. Der bekannte deutsche Ökonom und frühere Finanzstaatssekretär unter Oskar Lafontaine rechnet damit, dass die Weltwirtschaft nur eine Delle erleiden wird, wenn das Coronavirus in einem Monat weitgehend verdrängt sein sollte. Das Kernübel in Europa sieht er im Sparkurs, der Ländern die Verwendung dringend benötigter öffentlicher Mittel verbiete.

STANDARD: Die Märkte brechen auf breiter Front ein. Wie stark ist – neben der höheren Ölförderung Saudi-Arabiens – der Einfluss des Coronavirus auf den Absturz?

Flassbeck: Corona ist nur vordergründig der Grund dafür. Die Börsen sind seit Monaten und Jahren dramatisch überbewertet. Es war immer klar, dass die Märkte bei wachsender Verunsicherung einen Einbruch erleben. Für sich genommen ist das noch nicht dramatisch. Das hat es in der Vergangenheit schon öfters gegeben, und davon erholen sich die Märkte meistens schnell.

Flassbeck spricht sich für mehr öffentliche Investitionen aus ...
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STANDARD: Können die Märkte nicht die Realwirtschaft infizieren?

Flassbeck: Man muss in dem Fall ein wenig zwischen den USA und Europa unterscheiden. Europa hat seit zwei Jahren eine schwache wirtschaftliche Entwicklung, Deutschland sogar eine Rezession, zumindest eine Industrierezession. Insofern trifft die Entwicklung auf eine labile Wirtschaft, und von daher besteht eindeutig eine Gefahr.

STANDARD: Einige Ökonomen rechnen wegen des Coronavirus mit einer globalen Rezession. Warum sind Sie da weniger pessimistisch?

Flassbeck: Zunächst werden die Konsequenzen gravierend sein, aber dann hängt alles von der Dauer und Ausbreitung der Infektion ab. Wenn manche Virologen recht haben, die sagen, dass, wenn der Frühling kommt, Corona wieder geht, dann wird das Ganze nicht dramatisch. Das gilt natürlich nicht für die Reisebranche oder Messebetreiber, die die Ausfälle nicht kompensieren können. Aber wenn Anfang April weitgehend Entwarnung gegeben werden kann, dann werden die Produktionsausfälle in ein, zwei Monaten wieder aufgeholt sein. Das wäre dann nur eine Delle in der Weltkonjunktur.

STANDARD: Wie schlimm ist die Lage für das ohnehin wirtschaftlich angeschlagene und hochverschuldete Italien?

Flassbeck: Italien ist in einer schwachen Entwicklung. Das ist aber nicht nur die italienische, sondern auch die nördliche Schuld, wie ich sagen würde. Man hat Italien in eine Zwangsjacke gesteckt, aus der es nicht herauskommt. Das Land braucht einen richtigen Befreiungsschlag, und das geht nur über mehr öffentliches Geld. Wir haben in allen Ländern das Problem, dass die Unternehmen und die Haushalte sparen, und wenn alle sparen, dann kann die Wirtschaft nicht funktionieren. In so einem Fall muss der Staat Geld ausgeben, aber das ist in Europa verboten. In den USA läuft die Wirtschaft deshalb so gut, weil Herr Trump massiv Schulden macht, und niemand beklagt sich darüber. Ich kann nur hoffen, dass Europa bald die Kurve kriegt.

... kurzfristig würden sie in der aktuellen Krise allerdings wenig bewirken.
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STANDARD: Vor dem Fall ging es an den Börsen steil bergauf. Sind die Finanzmärkte fehlgeleitet?

Flassbeck: Die Märkte schießen immer über, in die eine wie in die andere Richtung. Es kann durchaus sein, dass in einem Monat alles vorbei ist und die Börsen wieder euphorisch sind. Das darf man nicht überbewerten, zumal die Rolle der Finanzmärkte für die Unternehmen überschätzt wird. Der Aufschwung an den Börsen in den letzten Jahren war total überzogen, aber nicht so schlimm wie 2008. Damals hatten wir viel größere Blasen an viel mehr Märkten. Allerdings zeigt sich jetzt wieder einmal: Es wird jeden Tag mit Billionen an den Börsen gezockt. Dieses Finanzkasino ist vollkommen sinnlos.

STANDARD: Wie stark haben die Notenbanken zur Blasenbildung beigetragen?

Flassbeck: Die Notenbanken haben ja gar keine Alternative. Natürlich gibt es einen Kollateralschaden, wenn die Märkte überdrehen. Aber die Alternative kann ja nicht sein, in einer schwachen Wirtschaft die Zinsen zu erhöhen. Wenn die Wirtschaft nicht läuft, weil zu wenig Schulden gemacht werden, kann die Notenbank nicht tatenlos dasitzen. Es wird zu viel gespart, und deshalb sinkt der Preis auf Ersparnisse. Das ist Marktwirtschaft. Wie man sich darüber beklagen kann, werde ich nie verstehen.

STANDARD: Wie kann man in der aktuellen Krise gegensteuern?

Flassbeck: Von einer Steuersenkung halte ich nichts. Vor allem Unternehmen hätten derzeit nichts davon, auch Konsumenten würde eine Entlastung wenig bringen. Das Einzige, das hilft, sind Investitionen, aber die dauern halt lange. Was man tun kann, ist, stark betroffenen Branchen zwei, drei Monate über die Runden zu helfen. (Andreas Schnauder, 10.3.2020)