Im Gastkommentar zeigt der Türkei-Experte Hüseyin I. Çiçek auf, dass die Türkei nach dem Gipfeltreffen in Moskau ihre Rolle als wichtiger Akteur verlieren wird.

Der türkische Präsident und der Regierung nahestehende Medien verbuchen das Ergebnis des Gipfeltreffens von Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin als große diplomatische sowie politische Errungenschaft. Zugegeben, ein Waffenstillstand – mehr hat Ankara nicht erreichen können – ist besser als die Weiterführung der Kampfhandlungen, die immer mehr zur Vergrößerung der humanitären Katastrophe beitragen, die sich bereits seit einigen Wochen in Idlib ereignet. De facto hat Erdoğan vor wenigen Tagen in Moskau mit der Unterzeichnung des "zusätzlichen Protokolls" zum Sotschi-Memorandum vom September 2018 seine Pläne und Strategie aufgegeben.

Vereinbart wurde, dass ab dem 6. März 2020, 00.01 Uhr, alle bewaffneten Militäreinsätze entlang der bestehenden Konfrontationslinien in Idlib eingestellt werden. Das bedeutet, dass die Türkei ihre militärischen Observationsposten hinter der Autobahn M 5 sowie weiteren Regionen aufgeben wird, die von den Truppen Baschar al-Assads seit Beginn dieses Jahres zurückerobert wurden.

Die strategisch wichtige Autobahn M 4 in Nordsyrien.
Foto: APA / AFP / Omar Haj Kadour

Weiters, dass nördlich und südlich entlang der Autobahn M 4 ein Korridor über jeweils sechs Kilometer zu errichten sei, der den Sicherheitsinteressen beider Parteien dient. Binnen sieben Tagen nach dem Gipfeltreffen soll der Sicherheitskorridor in Absprache zwischen den beiden Verteidigungsministerien der verhandelnden Parteien etabliert werden. Auch entlang des oben genannten Verkehrsweges wird Ankara seine Truppen zurückziehen müssen.

Erste gemeinsame Patrouillen werden voraussichtlich am 15. März von den Militärs der beiden Staaten durchgeführt. Das gemeinsame militärische Begehen entlang der Autobahn M 4 führt von Trumba, westlich von Saraqeb, bis nach Ain al Havr.

Assads Machtgewinn

Weshalb führen die oben genannten Punkte zwar zu einer gesichtswahrenden Optik, jedoch zu einer diplomatischen und politischen Niederlage Präsident Erdoğans und der AKP? Bisher wurden Teile der M-4-Autobahn von der Türkei und mit ihr verbündeten Rebellen kontrolliert. Wenn die Türkei nun eingewilligt hat, sich jeweils sechs Kilometer nördlich und südlich der M 4 und die mit ihr kämpfenden jihadistischen Gruppierungen zurückzuziehen, ermöglicht dies Damaskus und seinem russischen Verbündeten, die wichtige Verkehrsroute für deren Interessen zu nützen. Bereits 2018 war das Teil des Sotschi-Abkommens, gegenwärtig ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass die Vereinbarungen von Ankara eingehalten werden.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Autobahn M 5 keinen Verhandlungsgegenstand bildete, im Gegensatz zum Sotschi-Memorandum 2018. Dies legt nahe, dass Ankara Assad den graduellen Machtgewinn über sein Territorium nicht mehr streitbar machen kann. Letzteres liegt auch daran, dass die türkische Armee in den drei Tagen vor dem Gipfeltreffen in Moskau erhebliche Materialverluste, laut verschiedenen Quellen zehn bis 13 Drohnen, durch die syrische Armee hinnehmen musste.

Ultimaten und Drohungen

Der Waffenstillstand ermöglicht Erdoğan vor allem die Option, seine Truppen aus dem Kriegsgebiet zurückzuziehen, die Beziehung zu den Rebellen zu kappen und gleichzeitig der Opposition im eigenen Land die Möglichkeit zu rauben, auf Grundlage steigender Todeszahlen türkischer Armeemitglieder seine Person und Politik zu diskreditieren.

Gleichzeitig muss Erdoğan die öffentliche Aufmerksamkeit von den 30 gefallenen Soldaten der letzten Wochen ablenken – wofür unter anderem Russland verantwortlich ist; Putin hat es auch am 5. März explizit mitgeteilt – und dies wird er vor allem mit dem Thema "syrische Flüchtlinge und der fehlenden Unterstützung seitens der EU" zu erzielen versuchen. Vor allem weil gegenwärtige Umfragen in der Türkei zeigen, dass der Entschluss der Regierung, Flüchtlinge nicht daran zu hindern, nach Europa zu gelangen, von der Bevölkerung positiv bewertet wird.

Ein neuer Deal mit der EU würde Erdoğan vor allem innenpolitisch nützen. Das Gipfeltreffen in Moskau wird zur Folge haben, dass die Türkei in den nächsten Wochen ihre Rolle als wichtiger Akteur kontinuierlich verliert. Die vom Präsidenten gesetzten Ultimaten und Drohungen konnten keinen Erfolg in Syrien erzielen. Eine Einigung mit der EU würde der türkischen Bevölkerung suggerieren, dass Ankara immer noch ein ernstzunehmender Verbündeter sei, dessen Interessen in Brüssel Rechnung getragen wird. (Hüseyin I. Çiçek, 10.3.2020)